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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe
Autoren: Arnaldur Indriðason
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sagte er.
    Abends fuhr er vor ihrem Haus vor und wartete. Unsicher, wie er bei seinem ersten Rendezvous war, wollte er nicht klingeln und nach ihr fragen. Und hupen wollte er auch nicht, das konnte als Frechheit ausgelegt werden. Also blieb er im Auto sitzen und wartete geduldig auf sie. Die Minuten zogen sich endlos dahin, bevor sie endlich zur Haustür herausgeschossen kam.
    »Wartest du schon lange?«, fragte sie, nachdem sie sich auf den Beifahrersitz gesetzt hatte.
    »Nein«, antwortete er.
    »Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass du hupst.«
    »Ich hab wirklich nicht lange gewartet.«
    »Sind wir zu spät dran?«
    »Nein, auf keinen Fall.«
    Den Film fanden sie beide sehr enttäuschend, und so gab es nicht viel, worüber sie reden konnten, als sie wieder im Auto saßen. Er fuhr in Richtung Innenstadt, weil er vorhatte, dort ein oder zwei Runden zu drehen und bei einer Eisbude zu halten. Die Kioske hatten noch offen. Sie unterhielten sich über die Hauptdarstellerin, die ihr auf die Nerven gegangen war, und er ließ sich darüber aus, dass der Film im Grunde genommen kein bisschen witzig gewesen wäre. Er kaufte das Eis für sie, genauso wie er die Kinokarten und das Popcorn bezahlt hatte, und dann fuhr er wieder in das Viertel, wo sie wohnte. Es war mitten in der Woche, und zu dieser Stunde waren nicht viele Leute unterwegs. Bevor sie sich versahen, standen sie wieder vor ihrem Haus.
    »Vielen Dank für alles«, sagte sie, als sie das Eis aufgegessen hatte.
    »Danke gleichfalls«, sagte er.
    Sie rückte etwas näher zu ihm herüber, und er begriff, dass sie ihm einen Kuss geben wollte. Er schob sich ebenfalls näher an sie heran. Ihre Lippen waren nach dem Eis noch kalt und ihre Zunge mit dem leichten Vanillegeschmack fühlte sich kühl an.
    Die nächsten Tage musste er ständig an sie denken. Er sehnte sich danach, sie wiederzusehen, aber auf den Schulkorridoren war sie nirgends zu entdecken. Er erinnerte sich dunkel, dass sie eine Reise erwähnt hatte, die sie mit ihren Eltern unternehmen wollte. Das war wahrscheinlich die Erklärung. Er versuchte, bei ihr anzurufen, aber niemand ging ans Telefon. Zweimal fuhr er abends zu ihrem Haus und sah, dass nirgendwo Licht brannte. Er hatte noch nie solche seltsamen Gefühle gehabt, war so gespannt gewesen, so erwartungsvoll, hatte solche Sehnsucht verspürt.
    Am Wochenende darauf verabredete er sich mit Patrekur in einem beliebten Vergnügungslokal im Stadtzentrum. Es war voll, und der Lärm grenzte ans Unerträgliche. Patrekur erzählte ihm, dass er ein tolles Mädchen kennengelernt hatte, das auch auf dem Gymnasium war. Er winkte jemandem in der Menschenmenge zu.
    Und auf einmal stand Súsanna vor ihnen.
    Das Mädchen, um das seit dem Kino-Abend alle seine Gedanken gekreist waren.
    »Hallo«, schrie sie, um den Krach zu übertönen. »Ihr kennt euch?«, fragte sie verwundert.
    »Ja«, rief Patrekur. »Kennst du Siggi?«
    Sigurður Óli sah die beiden an und begriff überhaupt nichts mehr.
    »Wir waren mal zusammen im Kino«, rief sie. »Ein bescheuerter Film«, fügte sie lachend hinzu. »Fandest du nicht auch?«
    »Bist du … Seid ihr …?«
    Sigurður Óli fiel es nicht leicht, Worte für das zu finden, was er sagen wollte. Sein Flüstern ging in dem Lärm unter, und im nächsten Moment waren die beiden in der Menschenmenge verschwunden.

Zweiundfünfzig
    Er ging davon aus, dass ihre Kinder in der Schule waren und dass sie kurz vor Mittag allein zu Hause sein würde. Er hatte sich nicht telefonisch angemeldet, sondern nur an ihrem Arbeitsplatz angerufen und erfahren, dass Súsanna krankgeschrieben und schon einige Tage nicht mehr bei der Arbeit erschienen war. Er überlegte, ob er Patrekur anrufen sollte, damit er dabei sein konnte, verwarf den Gedanken aber wieder. Das war Súsannas Angelegenheit, Patrekur würde erst davon erfahren, nachdem er mit ihr gesprochen hatte. Er überlegte auch, ob es nicht besser wäre, jemand anderen damit zu beauftragen, beschloss aber dann doch, selber zu gehen. Wenn er sie ins Hauptdezernat gebracht hatte, würden andere den Fall übernehmen.
    Er fuhr vor dem Haus vor. Patrekur und Súsanna lebten in einem schönen Einfamilienhaus in Grafarholt. Sie hatten es mit verschiedenen Darlehen gekauft, darunter auch eines in ausländischer Währung, einem sogenannten Fremdwährungskredit. Patrekur hatte ihm gesagt, dass sie mit den Raten gut klarkamen, auch wenn sie sich monatlich auf weit über hunderttausend Kronen beliefen.
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