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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt
Autoren: Dieter Noll
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Erinnerungen und alten Bewußtseinsinhalten, die aus der Vergessenheit emportauchten. Das fiebrige Grübeln verlor rasch den Gegenstand. Aber aus der Vergangenheit hoben sich unaufhörlich Bilder, unscharf, verschwommen, ohne Konturen … Immer neue Gerüchte: Entlassung, Übergabe an die Franzosen … Holt blieb in der Nähe des Lagertors, schlief dort und entfernte sich nur zum Verpflegungsempfang. Er wartete, auf irgend etwas.
    Nichts geschah.
    Die Mittagssonne brannte.
    Das Sonnenlicht, das auf seine geschlossenen Lider stach, zauberte feurige Ringe auf die Netzhaut. Er fror, in der Gluthitze des frühen Nachmittags, und das Kältegefühl beseitigte die Benommenheit.
    Entlassung, dachte er. Wo geh ich hin?
    Er richtete sich auf. Immer, wenn er sich aufrichtete, wurde ihm schwindlig. Ich muß zu Gundel! Der Gedanke blieb: Ich muß zu Gundel.
     
    Eines Tages wurden sie durch die Lagerstraßen in ein anderes Camp geführt. Ein Dutzend großer Zelte, ringsum Gefangene.Das war jenes sagenhafte Entlassungscamp, von dem die Gerüchte sprachen. Holt legte sich auf den Boden. Am Morgen trat er den Gang durch die Zeltreihe an. Ein Offizier drückte den Prägestempel in den Entlassungsschein.
    Jenseits des Weinberges stand ein Güterzug. Auf den offenen Wagen lagen Kartons mit Verpflegung, Rationspäckchen der amerikanischen Armee, sogar mit Zigaretten. Holt aß langsam. Er lag auf den Bohlen des Tafelwagens und rauchte. Er fror wieder und zitterte. Ein Schweißausbruch folgte. Er war benommen. Wo fand er Gundel?
    Der Zug überquerte den Rhein, dampfte nach Osten, zwei Tage lang. Dann hielt er. Das Begleitkommando jagte die entlassenen Gefangenen von den Wagen.
    Tausend ausgehungerte Menschen fielen wie ein Heuschreckenschwarm über die Obstbäume her, die zu beiden Seiten der nahen Chaussee standen. Wer zu schwach war, einen Baum zu erklettern, riß einen Kohlkopf aus dem Acker.
    Holt wurde nicht satt von dem rohen Kraut. Es trieb ihn nach Osten. Noch immer wußte er nicht, wohin er sich wenden sollte. Nicht zu Vater, nein. Zu Gundel! Er durchwanderte ein paar Dörfer und klopfte vergebens an. Hinter verrammelten Toren lärmten die Kettenhunde. Er verließ die Chaussee und hielt sich nördlich. Er lief bis zum sinkenden Abend. Ermattet saß er im Gras einer Koppel, auf der Fohlen weideten.
    Keiner will was von mir wissen. Liegenbleiben. Nie mehr aufstehn. Wozu auch?
    Aber ich muß erst noch zu Gundel! Der Gedanke trieb ihn hoch.
    In der kleinen Stadt am Fluß suchte er Gundel vergebens. Im Hause des Rechtsanwalts Gomulka wohnten Fremde. Alle Menschen waren fremd. Endlich erfuhr er: Gundel hatte die Stadt verlassen.
    Er wanderte weiter. Er bettelte, immer wieder abgewiesen, schwach vor Hunger. Er schlief im Straßengraben.
    Des Morgens, in der Kühle vor dem Sonnenaufgang, fühlte er sich frisch und ausgeruht, aber in der Hitze des Mittags schwandendie Kräfte. Er legte sich am Nachmittag ins Gebüsch, zog die Zeltbahn über sich und schlief, bis ihn nach Mitternacht der fallende Tau weckte.
    Er kam nur langsam voran, blind für alles, was ringsum geschah. Er sah nicht die Flugzeugtrümmer, die ausgebrannten Panzer im sommerlichen Land, sah nicht, wie die Ernte geborgen wurde, und nicht die zertrümmerten Dörfer, die gesprengten Brücken, den Strom der Heimkehrer und Umsiedler auf allen Straßen … Er lief, von peinigender Unruhe getrieben, bis er irgendwo in einem Gebüsch einige Stunden schlief.
    Einmal sah er sein Spiegelbild im Wasser eines Dorfteiches. Ein viel zu großer Schädel, ein hohlwangiges Gesicht, fiebrig glänzende Augen, struppiger Bart … Das bist du, das ist von dir geblieben. Einer zog aus, voller Kraft und Übermut, Abenteuer zu erleben, Bewährungsprobe, Schmelztiegel, Schule der Mannestugend … Einer kehrt heim, zerbrochen, vernichtet. Er starrte gebeugt ins spiegelnde Wasser. Das kenn ich, das Bild! Jählings wurde die Erinnerung lebendig: Auf dem Wege zur Straßenbahn … zur Batterie, er trug ein dickes Heft unter dem Arm … eine Zeitschrift … IB-Sondernummer: »Untermenschen …« Gesichter wie seines.
    Er erreichte Weimar. Man redete von einer Demarkationslinie. »Sie können doch nicht zu den Russen … es soll furchtbar sein …« Es kümmerte Holt nicht. Er legte sich im Park schlafen und sah ein paar Amerikaner über die Straßen schlendern. Er erwachte, und ein Pferdefuhrwerk rumpelte über das Pflaster. Auf dem Bock ein Rotarmist.
    Holt stand am Straßenrand. Ein Lastwagen mit
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