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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt
Autoren: Dieter Noll
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Soldaten rollte vorbei. Holt war zu schwach, um die tief verwurzelte Angst zu fühlen, die seinen fieberhaften Puls noch schneller schlagen ließ. Man beachtete ihn nicht.
    Tausende zogen über die Landstraßen. Niemand wendete den Kopf nach einer der grauen Gestalten.
    Ein Bahnhof, ein Zug unter Dampf, alle Trittbretter besetzt, alle Abteile vollgepfercht, auf den Dächern Menschen in zerschlissenem Feldgrau. Holt fuhr auf einem Puffer mit. Am Abend hielt der Zug.
    Anderen Tages nahm ihn ein Auto mit, dann wieder rollte eine Lok mit ein paar Güterwagen nach Norden. Er zählte nicht die Tage. Er fühlte nur unklar: es war Zeit, das Ziel zu erreichen.
     
    An einem heißen, wolkenlosen Julitag hockte er am Straßenrand. Der Schlaf erfrischte ihn nicht mehr. Tag und Nacht peinigten ihn Schüttelfrost und Fieberschauer in jähem Wechsel. Er kaute Sauerampfer und Hirtentäschel. Ein Pferdewagen holperte vorbei, im Kasten stand ein braungeflecktes Kalb. Holt kletterte auf den Wagen, lag im Stroh, und das Kalb begann, ihm das Gesicht zu lecken, mit einer großen, rauhen Zunge … Am Nachmittag blieb er auf der Chaussee zurück. Er verfiel in einen schleppenden Schritt, während sein Kopf auf die Brust sank. So marschierte er eine Stunde lang. Müdigkeit lockte.
    Ein Lastwagen überholte ihn und hielt. Der Fahrer rührte mit einer Eisenstange in dem qualmenden Holzgasgenerator. Holt fand sich auf dem Wagen wieder, zwischen Koffern und Bettenbündeln, Frauen mit Säuglingen, in Umschlagtücher gehüllten Greisinnen, Männern mit Krücken und Beinstümpfen. Der Wagen fuhr einer großen, zerstörten Stadt entgegen.
    Er stand am späten Nachmittag vor der trostlosen Kulisse ausgebrannter Häuser, zerschlagener Fassaden, und um ihn her hasteten Menschen. Eine überfüllte Straßenbahn rollte vorbei. Bei einem Trümmerberg reichten Frauen Ziegelsteine von Hand zu Hand. Holt lief durch die Straßen. Leirige, piepende Töne einer Drehorgel, ein Blinder mit gelber Armbinde. Die schmale Gasse, ein unzerstörtes Haus. Holt starrte die Fassade an. Weihnachten … von hier war er geflohen, es war Ewigkeiten her.
    Er stieg langsam die Treppe hoch.
    »Doktor Holt? Wohnt nicht mehr hier! Den haben die Russen zum Fabrikdirektor gemacht. Spremberg-AG … in Mönkeberg …«
    Holt lief zu dem Vorort hinaus.
    Er fand ein rotes Backsteingebäude. Über dem Werktor die Aufschrift »Spremberg-AG«. Ein Holzschild mit russischen Schriftzeichen. Durch den Torweg sah Holt ein weites Fabrikgelände. Er ging am Schlagbaum vorbei. Eine Stimme rief ihn an.Ein Pförtner, einarmig, den linken, leeren Hemdsärmel hochgesteckt. Holt lehnte schwer atmend an der Wand. Dann neigte er den Kopf zum Fenster der Portierloge. »Ich such Doktor Holt.« Der einarmige Pförtner verbesserte: »Professor Holt. Das ist hier.« Er langte nach dem Telefonhörer, ließ die Hand darauf liegen und fragte: »Wer sind Sie?«
    Nein, dachte Holt, keine Heimkehr … des verlorenen Sohnes … das nicht! Ein Fieberschauer löschte alle Gedanken aus. »Ich will … eine Auskunft … Bitte, ob er … ob sich bei ihm … ob ihm etwas …« Der Satz sträubte sich gegen seine Vollendung. »Ob er was von Gundel Thieß weiß. Adresse oder so.«
    »Gundel?« wiederholte der Pförtner erstaunt, ließ das Telefon los, zog ein paar abgelegte Passierscheine zu sich heran und blätterte. Aber er schob die Papiere beiseite und murmelte: »Da will ich doch lieber …« Er klemmte den Hörer mit der Schulter des amputierten Armes am Ohr fest und wählte. »Ist der Professor … Im Labor?« Er drückte die Gabel nieder und wählte neu. »Herr Professor, hier ist ein … ein Heimkehrer, er will die Adresse von Fräulein Thieß!«
    Holt hörte das alles nicht. Er sah nicht, daß der Pförtner nickte, den Hörer hinwarf und nun in offenkundiger Bestürzung aus der Loge in die Tordurchfahrt trat. Er lehnte an der Wand und schaute auf die Straße hinaus, und die flimmernden Lichtflecke der Abendsonne auf dem Pflaster begannen sich vor seinem Blick im Kreise zu drehen, immer schneller.
    Er hörte hastige Schritte, er erblickte als weißen verschwimmenden Fleck den Labormantel seines Vaters, und dann begann sich auch der weiße Fleck im Kreise zu drehen.
    Er erwachte für Augenblicke, in einem Bett, und nahm Gundels Anblick mit, als er in Fieberträume zurückfiel.

Informationen zum Buch
    Der Roman einer betrogenen Generation
    Als »Remarque des Zweiten Weltkriegs« wurde Dieter Noll von der Kritik
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