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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt
Autoren: Dieter Noll
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zweitausend Gefangene, Offiziere und Mannschaften in buntem Durcheinander aller Waffengattungen; unter ihnen Holt, seit mehr als vierundzwanzig Stunden ohne Nahrung, ohne Wasser.
    So lag er auf dem Erdboden, in die Zeltbahn gewickelt. Es gab Fälle von Ruhr. Die Krankheit griff um sich. Der Himmel wölkte sich zu. Nun fiel Regen. Eine feiner, eiskalter Landregen.
    Das zweite Lager faßte fünfundzwanzigtausend Gefangene, ein umgepflügter Acker, von Stacheldraht umgeben. Es regnete. Der Acker war aufgeweicht. Die Gefangenen versanken bis zu den Knien. Keine Verpflegung. Auch hier diente ein Bach, der durchs Lager floß, als Wasserleitung und Latrine zugleich. Ruhr und schwere Brechdurchfälle verschonten niemanden. Es gab die ersten Toten.
    Holt saß im nassen Acker, die Knie unter das Kinn gezogen, die triefende Zeltbahn über dem Kopf. Der Abend sank. Der Regen versiegte. Der Schlamm gefror in hereinbrechendem Frost. Der Körper erstarrte. Es ging zu Ende mit dem, was einmal Werner Holt gewesen war, Luftwaffenhelfer, Arbeitsmann, Panzerschütze.
    Seit er sich entwaffnet in der Gewalt der Amerikaner wiedergefunden hatte, war die Anspannung nicht gewichen. Vor seinen geschlossenen Augen waren die Bilder in Flammen zum Himmel aufspringender Panzer, Toter, Verstümmelter, mit grauenhafter Deutlichkeit, Visionen einer zusammenbrechenden Welt. Erinnerungen: Feuernacht, Sägemühle, Gestalten im Drillich … Die Bilder erloschen, Schleier zogen darüber hin.
     
    Grauer Himmel, rieselnder Regen. Gefangene, Rücken an Rücken gelehnt, im Schlamm. Stille. Ein Posten jenseits des Stacheldrahtes wischte sich das triefende Gesicht. Der Gewehrlauf klirrte gegen den Helmrand.
    Holt horchte: Rauschen des Regens, sonst nichts. Er horchte in sich hinein: Leere, nichts als Leere. Er legte den Kopf in den Nacken. Der feine Sprühregen traf sein Gesicht. Vor den Augen trieben Wolken, eintönig grau. Der letzte Gedanke fror ein.
    Gleichgültigkeit blieb. Dumpfe Triebhaftigkeit ersetzte bewußtes Handeln. Sinnlose Gerüchte weckten Erregung und Enttäuschung, aber Holt nahm keinen Anteil daran. Die verbürgte Kunde von bedingungsloser Kapitulation interessierte ihn kaum, die durchsickernden Nachrichten von den Umsiedlungsaktionen im Osten drangen nicht in ihn hinein. Ein Prozeß des langsamen Dahinsterbens umgab ihn. Hunger- und Typhustod weckten die Erinnerung an unvorstellbares Leid und Elend … Stumm erlebte er die Agonie der Verhungernden.
    Namen von Lagern: Heidesheim, Kreuznach, Büdesheim … Ein Gelände von Weinbergen und brachliegenden Äckern, Stacheldraht, achtundzwanzig Camps, breite Lagerstraßen, dreihunderttausend Gefangene. Sie lagerten auf dem blanken Erdboden, wühlten mit bloßen Händen Mulden und Löcher, schliefen wie Tiere eng aneinandergepreßt. Regen fiel, immer mehr Regen, nasser Schnee, es fror und taute und fror. Im Mai zog endlich anhaltende Trockenheit über das Lager. Da waren die alten Männer in den Volkssturmuniformen schon zu Hunderten zugrunde gegangen.
    Der Durchfall mergelte Holt aus, der ewige Hunger verwandelte ihn langsam in ein Skelett. Aber er widerstand dem Typhus, der die Camps lichtete. Der Hunger verwandelte die Gefangenen in Tiere.
    Holt bot ein Bild menschlichen Verfalls. Das Haar verfilzte, der Bart wucherte. Die Uniform umschlotterte den ausgezehrten Körper. Trotz Ruhr und Durchfall hatte er sich wochenlang nicht reinigen können. Er verstreute Händevoll Chlorkalk in seiner Kleidung. Der ständige Chlorgestank stumpfte seine Sinne ab, die Haut reagierte mit Entzündung und Ausschlag. Er hocktestundenlang auf dem Boden. Nur der Nahrungsempfang trieb ihn hoch. Selten stand er am Zaun, denn er war zu schwach, die Schlägerei um einen Zigarettenrest durchzustehen.
    Der Juni brachte Regenfälle, dann drückende Hitze. Die Hitzewelle zermürbte Holt vollends. Er verbrauchte seine Kraft beim Anstehen nach Wasser. Die Ereignisse drangen kaum in sein Bewußtsein. Das Nachbarcamp leerte sich. Neue Gerüchte von Entlassung, von Arbeit in belgischen Kohlengruben liefen um.
    Holt lag auf dem heißen, vor Trockenheit rissigen Boden. Über ihm der endlose Himmel. Ringsum Stacheldraht. Daß jenseits des Zaunes eine Welt mit Dörfern und Städten sei, mit Menschen in Freiheit, das wußte er nicht. Es war unvorstellbar.
     
    Die Kräfte verfielen mehr und mehr, aber Holt begann wieder zu denken, nicht logisch, nicht folgerichtig, er trieb vielmehr ein verworrenes Spiel mit Bruchstücken von Gedanken,
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