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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt
Autoren: Dieter Noll
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Kleine vorhin … Es war …« Er verstummte, als Wolzow den Kopf hob, aber sein Blick irrte durch den Keller und blieb auf Holt haften.
    Holt hockte zwischen den Telefonen. Er hatte das Grauen nicht verwunden. Der Halbschlaf vermengte die frischen Eindrücke des Gefechts mit vielen Bildern der Vergangenheit. Alles war noch einmal da, die Schlägerei am Rabenfelsen, die verhungernden Gefangenen in der Batterie, die Sägemühle in den Karpaten, die Gestreiften im offenen Grab. Er wehrte sich gegen die Bilder, er wurde sie nicht los.
     
    Spät nach Mitternacht kehrte Vetter zurück. Er brüllte seinen Bericht in den Keller.
    Holt fuhr zusammen.
    »Zur Lagebesprechung«, sagte Wolzow.
    Vetter hängte die Maschinenpistole an einen Haken neben der Tür. Wolzow stülpte sich Wehnerts Offiziersmütze auf den Kopf. Er fröstelte und ließ sich von Vetter auch Wehnerts Mantel mit den silbernen Schulterstücken umhängen. Die Petroleumlampe warf seinen Schatten ins Riesenhafte verzerrt gegen die weißgekalkte Kellerwand.
    »Meine Herren!« Holt horchte auf. Da war wieder die Stimme, rauh, schneidend, eine fremde Stimme, sie jagte Holt einen Kälteschauer über den Rücken: eine Stimme, die Befehle schrie, die Stimme des Schicksals, und sie stach in die Tiefe seiner Erschöpfung, wie sie einst in alle Träume, in die Urlaubsstunden oder ins stille Krankenzimmer hineingedrungen war, eine Stimme, vor deren Klang es kein Entrinnen gab.
    »Die Kompanie hat den ersten Angriff abgewiesen und wird …«
    Holt war von bleischwerer Müdigkeit erfüllt. Wolzows Rede wischte diese Müdigkeit fort. Holt hörte zu, und der Augenblick kam, da die Worte aufhörten, bloßer Schall zu sein, da er ihren Sinn aufnahm: »… heldenhaft untergehn …«
    Das Wort war oft gefallen. Es hatte in allen Lesebüchern gestanden, von der Heiligen Schar des Pelopidas bis zu den Figuren Ernst Jüngers, und besonders im letzten Jahr hatte es die Spalten der Zeitungen gefüllt: heldenhaft untergehn. Es war Phrase gewesen, Drohung, hysterischer Angstschrei. Aber jetzt, in Wolzows Mund, war es ein Todesurteil.
    Es gibt keine Lösung, dachte Holt.
    Wolzow hielt ihm die Zigarettenschachtel hin, aber Holt bewegte verneinend den Kopf. Wolzow rauchte. »Ich bin zeit meines Lebens ein Verfechter des Schlieffenschen Cannae-Gedankens gewesen … schon Clausewitz lehrt, daß konzentrisches Wirken … Napoleon formuliert, der Schwächere darf nicht …«
    Das Gerede Wolzows weckte in Holt ein Gefühl der Fassungslosigkeit, als höre er einen solchen Vortrag zum erstenmal. Wer ist das, dachte er, der dort am Kartentisch steht?
    »… gekommen wäre, wenn nicht … und ich hätte, falls … gelingen würde, aber … wäre bestimmt gelungen, wenn …«
    Hätte, wäre, würde, wenn …
    Der Vorhang riß mitten durch. Holt erwachte. Er kam zu sich. Auf einmal sah er den düsteren Keller, den Kartentisch, den betäubten Leutnant nicht mehr unscharf, verzerrt, wie durch Nebel. Auf einmal faßte sein Blick alle Dinge klar und in harten Umrissen. Sein Denken setzte ein, mit einer Folgerichtigkeit, einer Schärfe, die eine halbe Ewigkeit unter Apathie und Gleichgültigkeit begraben gewesen war, wenn er überhaupt jemals darüber verfügt hatte, er, der Suchende mit verbundenen Augen, im dunklen Zimmer … Der Mechanismus seines Denkens pflügte in Sekunden alle Erfahrungen um, deutete alle Eindrücke neu, kehrte sein Leben vom Kopf auf die Füße und lief von der Vergangenheit her unaufhaltsam in die Gegenwart dieser Szene hinein.
    Er sah wie gebannt auf Wolzow. Er kannte ihn nun zwei Jahre, eine lange Zeit. Zwei Jahre lang hatten sie zusammen gekämpft. Sie hatten bei der Flak nebeneinander am Geschütz gestanden, sie hatten Tiefangriffe und Bombenteppiche überlebt, sie hatten das Gefecht in den Karpaten überdauert, sie waren im Osten durch den Schneesturm geflohen, sie hatten in einem Panzer gesessen. Vom Dummejungenstreich bis zum Nahkampf gegen die Amerikaner hatten sie alles gemeinsam erlebt. Holt kannte Wolzow, nichts war neu, nichts kam überraschend.
    Aber in dieser zweiten Stunde nach Mitternacht, an einem Aprilmorgen des Jahres 1945, war ihm, als habe er bis heute nichts, gar nichts von Wolzow gewußt. Er starrte ihn an, als sei das ein fremder Mensch, der dort groß und wuchtig, mit nervösem Zucken der Brauen am Kartentisch stand, seine Erklärungen mit Handbewegungen untermalte und gerade sagte: »Ich würde einen solchen Angriff …« Ein fremder Mensch, mochte das
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