Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
80 Days - Die Farbe der Lust

80 Days - Die Farbe der Lust

Titel: 80 Days - Die Farbe der Lust
Autoren: V Jackson
Vom Netzwerk:
gefallen ist. Doch sobald er seine Violine ergriff, wurde sein ganzer Körper geschmeidig. Folgte man mit den Augen den Bewegungen seines Arms, hatte man den Eindruck, dem Steigen und Fallen von Meereswogen zuzuschauen. Musik durchströmte ihn wie Ebbe und Flut.
    Im Unterschied zu Mrs. Drummond, der Musiklehrerin an meiner Schule, der meine Fortschritte nicht geheuer, ja sogar verdächtig waren, schienen sie Mr. van der Vliet nicht sonderlich zu beeindrucken. Er redete selten und lächelte nie. Selbst in unserem kleinen Städtchen Te Aroha kannten ihn nur wenige Leute, und soviel ich weiß, hatte er auch keine anderen Schüler. Mein Vater erzählte mir, er habe einst in Amsterdam unter Bernard Haitink im Concertgebouworkest gespielt, seine Karriere aber wegen einer Neuseeländerin, die er bei einem Konzert kennengelernt habe, an den Nagel gehängt und sei mit ihr hierher ausgewandert. Sie starb bei einem Autounfall, genau an dem Tag, an dem ich zur Welt kam.
    Auch mein Vater redete nicht viel, darin war er Hendrik gleich, allerdings nahm er regen Anteil am Gemeindeleben und kannte in Te Aroha jede Menschenseele. Selbst der größte Einsiedler hat irgendwann mal einen Reifenschaden an seinem Auto, dem Motorrad oder dem Rasenmäher, und da mein Vater im Ruf stand, auch die kleinste Reparatur auszuführen, hatte irgendwann jeder mal mit ihm zu tun. So tauchte eines Tages auch Hendrik mit einem Fahrradplatten in seiner Werkstatt auf – und als er sie verließ, hatte er eine Geigenschülerin.
    Ich fühlte mich Mr. van der Vliet auf merkwürdige Art verbunden, als wäre ich irgendwie für sein Glück verantwortlich, da ich an jenem Tag zur Welt gekommen war, an dem seine Frau sie verlassen hatte. Da ich glaubte, ich wäre geradezu verpflichtet, ihm Freude zu bereiten, übte und übte ich unter seiner Anleitung, bis mir die Arme wehtaten und meine Fingerspitzen wund waren.
    In der Schule war ich weder sonderlich beliebt noch eine Außenseiterin. Meine Noten waren solider Durchschnitt, und ich war in jeder Hinsicht unauffällig außer in Musik, wo ich durch meinen zusätzlichen Unterricht und mein Talent den Mitschülern weit voraus war. Mrs. Drummond ließ mich im Unterricht einfach links liegen, vielleicht weil sie fürchtete, meine besonderen Fähigkeiten würden meine Klassenkameraden eifersüchtig machen und gegen mich einnehmen.
    Jeden Abend ging ich in unsere Garage und spielte Geige oder hörte Schallplatten, meist im Dunkeln. Dabei tauchte ich völlig in den Kanon der Klassiker ein. Manchmal gesellte sich mein Vater dazu. Wir sprachen dann kaum ein Wort, aber ich fühlte mich ihm stets durch die gemeinsame Erfahrung des Zuhörens verbunden, vielleicht auch dadurch, dass wir beide ein so seltsames Hobby teilten.
    Ich ging nicht gern auf Partys und hatte nicht viele Freunde. Meine sexuellen Erfahrungen mit Jungs waren dementsprechend begrenzt. Doch schon bevor ich dreizehn wurde, spürte ich tief in mir ein Verlangen, das bereits meinen späteren ausgeprägten sexuellen Appetit ankündigte. Mir war, als schärfe das Violinspiel noch meine Sinne. Sobald das Instrument erklang, verschwand die Welt um mich herum, und es gab für mich nur noch die Empfindungen meines Körpers. Als ich in die Pubertät kam, begann ich diese Sinneseindrücke mit erotischen Gefühlen zu verbinden. Ich fragte mich, warum ich so leicht erregbar sei und warum gerade durch Musik. Schon damals machte ich mir Sorgen, mein sexuelles Verlangen könnte abnorm groß sein.
    Mr. van der Vliet behandelte mich mehr wie ein Instrument als wie eine Person. Er korrigierte meine Armhaltung oder drückte mir die Hand in den Rücken, damit ich mich gerade hielt, als wäre ich aus Holz und nicht aus Fleisch; er berührte mich so achtlos, als wäre ich Teil seines eigenen Körpers. Dabei war er stets vollkommen keusch, und dennoch begann ich trotz seines Alters, seines leicht säuerlichen Geruchs und seines knochigen Gesichts etwas für ihn zu empfinden. Er war ungewöhnlich groß, größer als mein Vater, vielleicht knapp zwei Meter, und überragte mich turmhoch. Ich bin heute ja gerade mal ein Meter sechsundsechzig. Mit dreizehn reichte mein Kopf kaum bis zu seiner Brust.
    Plötzlich begann ich aus Gründen, die nichts mit der Perfektionierung meines Spiels zu tun hatten, unseren Stunden entgegenzufiebern. Hin und wieder spielte ich absichtlich einen falschen Ton oder machte eine ungeschickte Bewegung mit dem Handgelenk, in der Hoffnung, er würde meine Hand
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher