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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius
Autoren: Horst Eckert
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doch, wen ich meine?«
    »Ist Ihre Schwester nicht alt genug, um selbst zu entscheiden, wem sie ihr Herz schenkt?«
    »Tun Sie, was ich sage, und stellen Sie keine Fragen.«
    »Wie kommen Sie darauf, dass ich mich für Ihren Privatkram einspannen lasse?«
    »Wollen Sie Karriere machen oder Ihr Leben lang im mittleren Polizeidienst herumkrebsen? Damit wir uns richtig verstehen: Ich kann Karrieren auch verhindern.«
    »Ich liebe klare Worte.«
    »Gut. Und noch etwas, Winkler.«
    »Ja?«
    »Dieses Telefonat hat nie stattgefunden.«
    Eine Weile stand Winkler unschlüssig da, den Hörer in der Hand, das Freizeichen im Ohr. Der Singsang des Anrufers klang in seinem Kopf nach, bedrohlich und verlockend zugleich. Karriere war zweifellos angesagt, wenn man eine Familie ernähren wollte. Einen kleinen Swami oder die Kinder, die er in Zukunft zeugen und ohne indische Spinnereien großziehen würde.
    Als er seiner Vermieterin das Buch in den Garten brachte, hatte sie ihr Oberteil abgelegt. Sonnenöl ließ ihre behäbig daliegenden Brüste glänzen. Die Witwe schien zufrieden zu sein. Mit dem neuen Strandkorb, dem Wetter und einem Mieter, der ihr Niemand ist eine Insel nachschleppte und ihre Titten nicht ignorieren konnte.
    In diesem Moment fasste Winkler einen Entschluss.
    Jahrzehnte später würde er behaupten, der Anruf an diesem Septembertag habe die entscheidende Antriebsstufe seines Lebens gezündet. Doch solche Erklärungen sind zu simpel. Es bedarf auch einer gewissen Portion Verzweiflung, um Lebensläufe zu sprengen und Existenzen in die Luft zu jagen.

Teil I
    Die Rückkehr

Morgen werden wir schneller rennen, unsere Arme noch weiter ausstrecken. Wie Boote gegen den Strom kämpfen wir uns voran, unablässig in die Vergangenheit zurückgeworfen.
    F. Scott Fitzgerald, Der große Gatsby

1.
    Mai 2005
    Anna stemmte sich gegen den Gepäckwagen. Fast ihr doppeltes Gewicht, achtundneunzig Kilo Gepäck in zwei Blechkisten und einer Reisetasche – Ausrüstung, Privatkram und jede Menge Mitbringsel aus dem Land, in dem sie fast ein ganzes Jahr gearbeitet hatte.
    Der Zollschalter war unbesetzt, in der Ankunftshalle ließ Anna ihren Blick schweifen. Sie hatte Lutz, ihrem Exfreund, auf Band gesprochen, dass er sie nicht abzuholen brauche.
    Er war tatsächlich nicht gekommen. Stattdessen bildeten zwei Uniformierte das Empfangskomitee.
    »Kollegin Winkler?«, fragte der Ältere, ein untersetzter Kerl mit zwei Silbersternen auf den Schultern.
    Händeschütteln und die üblichen Fragen nach dem Flug. Der Oberkommissar stellte sich als Ralf Koslowski vor und nahm ihr den schweren Wagen ab. Sein jüngerer Partner hieß Bader und musterte Anna mit einem interessierten Lächeln, das sie unangebracht fand. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt und war sich sicher, dass sie entsprechend aussah.
    Seit dem frühen Morgen war sie unterwegs. Zuerst die schier endlose Autofahrt nach Sarajevo, dann ein verspäteter Flug – beim Umsteigen in München hatte sie die erste Anschlussmaschine verpasst. Anna war froh, endlich angekommen zu sein.
    Der grüne Transit parkte am Ende der Taxischlange. Die Kollegen hievten die Kisten in den Transporter. Der Slibowitz klirrte in der Reisetasche. Koslowski kletterte auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Anna kurbelte das Seitenfenster herunter, als könne sie in der milden Abendluft etwas spüren, was sie willkommen hieß.
    Der Jüngere beugte sich auf dem Rücksitz vor. »Wie war’s dort unten?«
    »Anstrengend.«
    Sie wusste, dass ihre Einsilbigkeit unhöflich war, aber sie hatte keine Lust auf Smalltalk. Sie hatte den Auslandseinsatz drei Wochen vor dem regulären Ende abgebrochen und war heimgekehrt, ohne das Okay der Behörden abzuwarten. Vielleicht würde es Ärger geben.
    »Würdest du wieder nach Bosnien gehen?«, versuchte es der Kollege noch einmal.
    Anna hob nur die Schultern. Der Fahrtwind verwirbelte ihre Frisur. Sie fragte: »Habt ihr Zeit für einen kleinen Umweg?«
    »Klar«, antwortete Koslowski.
    Anna bat ihn, eine Schleife entlang des Rheins zu fahren. Theodor-Heuss-Brücke, das Oberkasseler Ufer – dann über die Kniebrücke auf die Innenstadt zu.
    Das Panorama. Die Lichter der Altstadt, der Rheinturm, die schicken Gebäude am Hafen, die in der Dämmerung glänzten. Große, weite Welt, pflegte ihr Vater nicht ohne Ironie zu sagen.
    Zu Hause – ein gutes Gefühl. Čapljina, das öde Kaff im Südwesten der Federacija Bosne i Hercegovine, war weit weg.
    An der Brückenauffahrt blickte
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