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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius
Autoren: Horst Eckert
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sie auf das zuversichtliche Lächeln ihres Onkels. Auch am anderen Ende standen riesige Plakate. Noch sechzehn Tage bis zur Landtagswahl.
    Anna dachte an ihren Vater, Expolizist und Abgeordneter, der sich ebenfalls wieder um ein Mandat bewarb. Dann fielen ihr seine besten Freunde ein, Karin und Michael Lohse, und deren ermordeter Sohn.
    Anna griff an die Innentasche ihrer Jacke, in der Karins Brief steckte. Sofort spürte sie wieder die Unruhe, die er in ihr ausgelöst hatte.
    Wieder zu Hause – die Erinnerung an den Albtraum, der Anna zur Flucht nach Bosnien getrieben hatte, meldete sich zurück, stärker als zuvor.
    Der Polizeitransporter überquerte zum dritten Mal den Fluss, tauchte in den Rheinalleetunnel und fädelte sich in den Strom der Autos ein, die auf der A 52 die Landeshauptstadt verließen, Richtung Kaarst-Holzbüttgen.

2.
    Ihre Eltern hatten im Jahr ihrer Geburt an der Hasselstraße gebaut, in einer heute immer noch schicken Gegend am Südrand von Holzbüttgen. Der weiß gestrichene Flachdachbungalow duckte sich hinter Ziersträuchern und Lärchen, die im Lauf der Zeit in die Höhe geschossen waren. Mit der Putzfrau hatte Anna verabredet, dass der Schlüssel unter einer Tonscherbe im Blumenbeet neben der Doppelgarage liegen würde.
    Die Scherbe entpuppte sich als halber Blumentopf, der Hausschlüssel hing gemeinsam mit zwei weiteren an einem roten Plastikanhänger, auf dem der SPD-Schriftzug prangte.
    Als Anna den Eingang öffnete, stieg ihr sofort der Geruch ihrer Kindheit in die Nase. Sie drehte den Dimmer. Die Deckenlampe ließ das Blattgold am handgeschnitzten Rahmen des Ankleidespiegels glitzern. Auf der Kommode schimmerte die uralte Buddhafigur aus Alabaster – das Souvenir einer Asienreise ihrer Eltern. Durch das Panoramafenster des Wohnzimmers leuchtete die Sonne herein, die als großer Feuerball hinter den Nachbardörfern Vorst und Linning über den Feldern hing.
    Die Kollegen stellten die Kisten auf dem Teppichläufer ab, quittierten das Ambiente mit einem Nicken und verabschiedeten sich rasch. Anna schloss die Tür hinter ihnen. Dann wurde ihr klar, wen sie außer ihrem Vater vermisste.
    »Picasso!«, rief sie, doch es tat sich nichts.
    In ihrem alten Jugendzimmer stellte Anna die Reisetasche ab. Die Einrichtung war fast unverändert geblieben, seit sie nach dem Abitur ausgezogen und nach Düsseldorf übergesiedelt war. Nur die Bravo- Poster, mit denen sie einst die Wände geschmückt hatte, waren durch gerahmte Drucke antiker Landkarten ersetzt worden.
    Anna hatte alles aufgegeben, als sie nach Bosnien gegangen war. Freund, Wohnung, das eigene Auto. Die Rückkehr ins Heim ihrer Kindheit bedeutete zugleich einen Neustart.
    Sie riss die Terrassentür auf, um den Duft des Gartens ins Haus wehen zu lassen. Ihr Vater nannte das ›Champagnerluft‹. Noch einmal rief sie nach Picasso, ihrem Zwergschnauzer, den sie in der Obhut ihres Vaters gelassen hatte.
    Kein Gekläff antwortete, kein Hecheln eines herbeistürzenden Köters, der sie ansprang und gekrault werden wollte. Nur die Amseln lärmten in den Sträuchern – Anna erinnerte sich daran, dass ihre Mutter es immer als spießig empfunden hatte, in einem Neubauviertel außerhalb der Großstadt zu leben.
    Die Blechkisten in der Diele störten. Doch Anna war müde und beschloss, das Auspacken auf morgen zu verschieben. Sie sah sich in der stillen Wohnung um.
    Im Arbeitszimmer ihres Vaters hing ein vager Geruch nach Zigarren. Anna strich über das schwarze Leder des wuchtigen Bürosessels.
    Neben dem Telefon eine uralte, etwas vergilbte Kinderzeichnung. Anna wunderte sich darüber, dass das Blatt dort lag. Dann überkam sie sentimentale Freude. Das Gekritzel zeigte eine Frau, einen Mann und einen Zwerg mit Knollennase. Die Köpfe viel zu groß für die Körper, die sie trugen. Am unteren Rand eine Signatur in ungelenk gemalten Großbuchstaben: FÜR PAPA VON ANNA-LUNA .
    Sie hasste den Doppelnamen, der auch in ihrem Pass stand. Dabei hatte ihr Vater noch das Schlimmste verhütet. Wäre es nach ihrer Mutter gegangen, trüge sie vermutlich den unaussprechlichen Namen einer ägyptischen Göttin.
    Annas Foto stand in einem silbernen Rahmen auf dem Schreibtisch. Im Garten aufgenommen, vor fast einem Jahrzehnt. Sie selbst fand die Nase zu breit, den Mund zu groß. Das brünette Haar hatte sie oft gefärbt, abschneiden und wieder wachsen lassen. Später hatte sie es aufgegeben, allzu große Mühe auf ihr Erscheinungsbild zu verwenden.
    Auf der
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