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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius
Autoren: Horst Eckert
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Der Fall war damit klar.
    Dennoch machte Anna der Brief zu schaffen, denn am Schluss schrieb Karin:
    Daniels Bekannter nennt den Namen deines Onkels, den er wegen einer alten Geschichte hasst, die deine Mutter zum Teil bestätigt. Politische Gründe für den Mord an Daniel? Es klingt so abwegig!
    Trotzdem nagen in mir Zweifel. Womöglich habe ich mit meiner Aussage einen Unschuldigen hinter Gitter gebracht und Daniels Mörder läuft noch frei herum. Der Gedanke macht mich fast verrückt …
    Mit Michael kann ich nicht darüber reden. Auch Bernd will mich nicht anhören. Deshalb wende ich mich jetzt an dich.
    Du warst immer eine gute Freundin für mich, fast wie eine Tochter. Du weißt mehr über Daniels Tod als wir alle und die Wahrheit geht dir über alles. Ruf mich bitte so bald wie möglich an!
    Ich weiß weder ein noch aus und habe Angst, etwas ganz Dummes zu tun.
    Karin
    Anna steckte den Brief wieder ein. Sie hätte zu gern gewusst, wer dieser ominöse Bekannte war, den Daniels Mutter getroffen hatte. Natürlich waren seine Spekulationen aus der Luft gegriffen. Und was sollte das Geraune über ihren Onkel, den Ministerpräsidenten?
    Aber Anna hatte Karin im Stich gelassen. Es hätte in ihrer Macht gestanden, die arme Frau zu beruhigen. Sie war die Hilfe schuldig geblieben.
    Anna füllte einen Becher mit Leitungswasser, spülte zwei Noctumed hinunter und kroch ins Bett. Es dauerte viel zu lange, bis das Schlafmittel wirkte. Die Gedanken rasten durch Annas Kopf. Karins Beerdigung hatte sie verpasst. Auch ihr Mann tat Anna leid. Innerhalb zweier Jahre hatte Michael seine gesamte Familie verloren.
    Und wieder bohrten ihre Schuldgefühle: Vielleicht würde Daniels Mutter noch leben, wenn Anna sie aus Bosnien angerufen hätte.
    Sie wünschte sich, ihr Vater wäre gesund und könnte ihr beistehen. Ein Fels zum Festhalten, ein Anker in der Welt.
    Anna rollte sich zusammen. Die Tabletten taten endlich ihren Job und erstickten Zweifel und Grübeleien.

4.
    November 2003
    Mit gemischten Gefühlen betrat Anna, vom Parkplatz an der Neubrückstraße kommend, das Justizgebäude, stieg hinauf in den ersten Stock des L-Blocks und öffnete den Zuschauereingang des Schwurgerichtssaals so leise wie möglich.
    Gestern hatte sie vor der großen Strafkammer des Landgerichts aussagen müssen. Sie hatte alle Fragen nach bestem Wissen beantwortet, dennoch schienen einige Kollegen aus der Mordkommission ihr die Schuld dafür zu geben, dass der Ausgang des Prozesses in seinen letzten Verhandlungstagen wieder fraglich war.
    Sie setzte sich auf den nächsten freien Stuhl. Ein paar Rentner sandten Blicke, dann legte sich die Unruhe, die sie verursacht hatte. In der ersten Reihe erkannte sie Karin und Michael Lohse.
    Annas Kollege Thilo Becker wurde gerade vernommen. Er saß am Zeugentisch, den Zuschauern den Rücken zukehrend. Becker war fast zehn Jahre älter als sie, doch er wirkte jugendlich mit seinem störrischen blonden Lockenschopf. Er antwortete routiniert. Vielleicht geschickter als ich, dachte Anna. Er würde die Sache zweifellos wieder einrenken.
    Sie blickte hinüber zu Clemens Odenthal, dem Mörder, der hinter seinem Anwalt auf der Anklagebank kauerte. Ein rotwangiger Typ mit Geheimratsecken. Das einzig Auffällige an ihm war die Brille mit den altmodisch großen Gläsern, die nicht zu dem Schöngeist passten, der zu sein er vorgab. Die Platzwunde an der Stirn, die er sich bei seiner Festnahme zugezogen hatte, war längst verheilt.
    Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, während der Pflichtverteidiger sich zurücklehnte und ihm etwas zuraunte – Anna fragte sich, wem Odenthal zuhörte: dem Anwalt oder den Stimmen im eigenen Kopf, die ihn heimsuchten, wenn er seine Tabletten vergaß oder einfach absetzte.
    Sie verstand nicht, warum sich Daniel mit diesem kranken Typen abgegeben hatte.
    Den Anblick der Leiche würde sie nie vergessen können.
    Schon nach wenigen Tagen war dem KK 11 der schwule Modezeichner aufgefallen, dessen Namen mehrere Zeugen genannt hatten. Und bereits beim ersten Besuch hatte sich Odenthal in Widersprüche verstrickt.
    »Sie waren zu zweit, Herr Becker?«, wollte der Vorsitzende Richter wissen.
    »Ja, Bruno Wegmann und ich.«
    »Laut Aussage des Angeklagten waren vier Beamte beteiligt.«
    »Er ist mehrfach befragt worden. Das hat sich über die gesamte Woche hingezogen. Insgesamt waren es mindestens fünf Beamte, die ihn einvernommen haben. Aber in dieser Nacht nur Wegmann und ich.«
    »Was sagen Sie zu dem
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