Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius
Autoren: Horst Eckert
Vom Netzwerk:
Prolog
    September 1976
    Bernd Winkler hatte nicht mehr mit dem Anruf gerechnet.
    Es war Samstagnachmittag, der Spätsommer war überraschend noch einmal zur Hochform aufgelaufen, die Schwalben surrten über den Gärten von Kaarst-Vorst und Winkler half seiner Vermieterin, den neu erworbenen Strandkorb auf die besonnte Hälfte der Rasenfläche zu schleppen. Die Witwe trug nichts als ihren schwarz-weiß gepunkteten Bikini – sie war gut in Form für eine Frau, die fast doppelt so alt war wie er. Aber der Strandkorb war Unfug. Sie besaß bereits eine Hollywoodschaukel und zwei Liegen nebst Sitzgarnitur aus Tropenholz.
    Stolz nahm sie Platz und lächelte mit geschlossenen Augen in die Septembersonne.
    Winkler sah auf die Uhr: Allmählich wurde es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Die erste Spätschicht nach zwei freien Tagen. Der Job bei der Schutzpolizei hatte nie seinem Wunschtraum entsprochen, aber es war nun einmal das, was er gelernt hatte, nachdem seine erste Ausbildung zum Hauer im Bergbau an einer hartnäckigen Bronchitis gescheitert war.
    Aus dem Kofferradio tönte ein Lied von George Harrison. Ein Sitar surrte, Tablas tockerten. Indische Klänge – Winkler musste an die Frau im roten Kleid denken, die gestern an der Tür geklingelt hatte. Sie war etwa fünfundzwanzig gewesen, Winklers Alter. Langes, in der Mitte gescheiteltes Haar. Um den Hals die typische Holzkette mit Medaillon. Auf der Straße ein VW-Bus mit laufendem Motor, am Steuer ein bärtiger Kerl.
    Die Frau hatte Winkler einen Fotoabzug gegeben und einen Gruß von Ma Yoga Shanta ausgerichtet. Es hatte eine Sekunde gedauert, bis bei ihm der Groschen gefallen war: So nannte sich Gabi jetzt. Mit keiner anderen Frau war er so lange zusammen gewesen, immerhin fast zwei Jahre.
    Ein Gruß aus einem früheren Leben – noch vor seiner Versetzung nach Düsseldorf war sie in eine Wohngemeinschaft in Süddeutschland gezogen, die sich Ashram nannte. Weißt du, Bernd, ich muss endlich diese bürgerlichen Zwänge abschütteln und mein eigenes Selbst finden.
    Gestern: Die Unbekannte im roten Kleid strich Haarsträhnen aus dem Gesicht und klemmte sie hinters Ohr.
    »Was soll das?«, fragte Winkler mit Blick auf das Foto – ein blinzelndes Baby in orangefarbener Windel.
    »Seine Mutter lässt fragen, ob du uns ein bisschen Geld für ihn mitgeben könntest.«
    »Gabi hat ein Kind?«
    »Es ist dein Sohn. Swami Anand.«
    Winkler war verwirrt. Von ihrer Schwangerschaft hatte er gewusst. Aber Gabi hatte abtreiben wollen. Von einem Swami Soundso hörte er nun zum ersten Mal.
    Ihm wurde klar, dass die Unbekannte ihm nur ans Geld wollte. Alles Schwindel: das Foto, der Gruß.
    »Verschwinde!«, knurrte Winkler. »Ich sollte dich festnehmen.« Er gab die Aufnahme zurück und knallte der Frau die Tür vor der Nase zu.
    Um gleich darauf seine Haltung zu revidieren.
    Er riss die Haustür wieder auf. Der VW-Bus fuhr gerade an. Winkler rannte auf die Straße und hob die Hand. Die Bremsen machten ein hässliches Geräusch, als die Rostlaube hielt.
    Die Frau kurbelte das Fenster herunter. »Bin ich jetzt verhaftet?«
    »Wie heißt du?«
    »Ma Deva Sheela.«
    »Scheiße, wo steckt Gabi?«
    »In Poona. Wir besuchen sie. Wir fahren zum Bhagwan.«
    »Gib mir das Foto!«
    Die Frau händigte es ihm ein zweites Mal aus.
    »Und das ist wirklich mein Sohn?«
    »Du heißt doch Bernd Winkler, oder?«
    Er kramte in seinem Portmonee. Vier Scheine, gerade mal zweihundert D-Mark. Er gab sie der Rotgewandeten. »Mehr hab ich nicht. Sag Gabi, sie soll mir schreiben.«
    Die Frau steckte die Banknoten in ihren Rucksack. Der Typ auf dem Fahrersitz legte den Gang ein. Der Bus rollte los.
    »Und sie soll mir weitere Fotos schicken!«, rief Winkler hinterher.
    Ma Deva Sheela winkte aus dem Fenster.
    Das Geld war er los. Das Kind, falls es seins war, sowieso. Poona – was für ein Scheiß.
    Wieder einmal hereingefallen, dachte Winkler. So kann das nicht weitergehen.
    Im Haus klingelte das Telefon.
    »Garantiert für Sie«, befand die Witwe, zu faul, um aufzustehen. Sie rief ihm hinterher: »Ich habe meinen Simmel auf der Kommode liegen lassen. Wären Sie so freundlich?«
    Als Winkler den Flur erreichte, schellte der Apparat immer noch. Er hob den Hörer ab und meldete sich.
    »Heute Abend um neun hat er einen Auftritt«, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung. Ein hoher Singsang, den Winkler auf Anhieb erkannte. »Höchste Zeit, Winkler, dass Sie den Bastard aus dem Weg räumen! Sie wissen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher