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5 Tage im Sommer

5 Tage im Sommer

Titel: 5 Tage im Sommer
Autoren: Kate Pepper
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Pause, um einen Becher bitteren Imbiss-Kaffee zu kaufen. Er kippte ihn hinunter und fuhr weiter. Nach einer Weile schaltete er das Radio ein, konnte sich aber nicht auf das Programm konzentrieren. Er versuchte zu singen, aber seine Stimme klang dünn und einsam. Es hieß, wenn ein Mensch, den man liebte, tot war, dann spüre man es. Er hatte gleich am ersten Tag gewusst, dass seine Eltern nicht mehr wiederkommen würden. Aber Emily war nicht tot. Er spürte, dass sie noch lebte. Sie konnte nicht einfach verschwunden sein. Er sah sie vor sich, wie sie sich in ihrem abgetragenen GI-Kampfanzug mit dem fest gezurrten schwarzen Gürtel in der Luft überschlug und auf beiden Füßen landete.
    Ihre Kampfkünste waren beeindruckend, das hatte Will bei ihrem ersten Treffen am eigenen Leibe erfahren, als sie ihn im Dojo auf die Matte befördert hatte. Er hatte ihren Gesichtsausdruck, als sie einander zum ersten Mal sahen und als Aikido-Partner berührten, nie vergessen: konzentriert und entschlossen, eine Kraft heraufbeschwörend, die über die physische hinausging. An jenem Abend hatte er ihre Augen für schwarz gehalten, aber sie waren haselnussbraun. Er hatte sie für groß gehalten, aber sie maß nur eins fünfundsechzig. Er dachte, sie hätte kurzes blondes Haar, doch es fiel ihr bis über die Schultern. Als er auf der Matte landete, sah er, dass sie die sexysten Knöchel hatte, die ihm je begegnet waren. Es waren damals die Jahre, in denen man miteinander »ging«, und ihm war noch nie eine Frau begegnet, die so wenig Angst hatte, seine Witze einfach zu übergehen, wenn sie nicht komisch waren. Er war kein Dummkopf. Er erkannte sie auf Anhieb, und neun Monate später waren sie verheiratet.
    Kurz vor New Haven fuhr er auf die 95 North ab. Normalerweise kam es bei New Haven und bei Providence zu Staus, nicht jedoch in dieser Nacht. Nirgends Familien mit Fahrrädern hinten auf ihren Minivans, keine Anhänger mit Booten, nur Lasterwagen und ein paar Irrläufer wie er. Die Luft wurde kühler, und er schloss die Fenster. Bei Nacht auf der Straße zu sein war ihm immer leichter gefallen als das Fahren zur Hauptverkehrszeit. Seine Eltern waren auf einem Highway verunglückt, mitten in der Rushhour.
    Als er sich dem Cape näherte, begann es erst zu regnen, dann sogar zu schütten. Seine Scheibenwischer wurden der Sturzbäche, die gegen die Windschutzscheibe prasselten, kaum Herr. Er zwang sich, langsamer zu fahren. Schließlich überquerte er die Bourne Bridge. Nach weiteren zwanzig Minuten kam Juniper Pond in Sicht. Um zum Haus zu kommen, musste man den Gooseberry Way hinunterfahren, eine unbefestigte Straße, die in ihrer privaten Sackgasse endete. Es war vier Uhr morgens, aber der Mond schien so hell, dass er den See hinter den Bäumen sehen konnte. Der Regen hatte so plötzlich aufgehört, wie er hereingebrochen war. Die Luft war unbeschreiblich süß.
    Das Haus war dunkel bis auf einen Lichtschein an der Seite, wo die Küche lag. Die Tür der Garage war hochgerollt. Drinnen parkte nur ein einziger Wagen, der von Sarah.
    Sarah kam ihm auf halbem Weg entgegen. In ihren Augen standen Tränen, die sie zu verbergen suchte. Sie zitterte.
    Will schloss sie in die Arme und streichelte ihren Rücken. Er musste all seine Kraft zusammennehmen, um nicht auch in Tränen auszubrechen. Sie hatten nicht den geringsten Grund, gleich das Schlimmste anzunehmen. Er durfte einfach nicht so reagieren, als wäre Emily tot. Sie wurde vermisst. Mehr wussten sie nicht.
    »Warum legst du dich nicht schlafen, Sarah?«
    »Wie könnte ich das? Bei all den Gedanken, die mir durch den Kopf gehen.«
    »Ich fahr zur Polizeiwache.« Will blickte sie beschwörend an. »Tu mir den Gefallen und ruh dich etwas aus, damit du dich morgen um die Kinder kümmern kannst.«
    »Ach, Will, ich kann einfach nicht schlafen.«
    »Hast du noch ein paar von den Schlaftabletten übrig?«
    Sarah nickte.
    »Nimm eine davon. Die Kinder werden erst in ein paar Stunden wach. Dann bist du zwar etwas kaputt, aber das ist besser, als gar nicht zu schlafen.«
    »Ich bin ja so froh, dass du gekommen bist.«
    Ihre Augen waren blutunterlaufen, als wäre ein Blutgefäß geplatzt. Emily war ihr einziges Kind. Alles, was sie noch hatte, außer ihren Enkelkindern. Und Will. Er wusste, dass sie ihm misstraut hatte, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Es war eine Sache, dass Emily Musikerin war – Sarah selbst war schließlich Malerin. Aber dass Emily sich ausgerechnet in einen
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