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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Autoren: Annika Reich
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»Entschuldigung.«
    Sie nickte.
    Der junge Mann holte ein Telefon aus der Tasche, wählte eine Nummer und sagte atemlos: »Kannst du mal kommen? Da war ein schlimmer Unfall an der Kreuzung bei der Schwedin… Nein, ihr ist nichts passiert.« Er schwieg kurz, dann sagte er: »Ach so, na dann, nein, klar, geht auch so«, und legte auf.
    Ella schüttelte wieder den Kopf, nahm die Flasche aus seiner Hand und trank.
    »Ein Schlag, und alles ist anders. So schnell geschnitten, nichts passt mehr zusammen«, sagte der junge Mann vor sich auf den Boden.
    Wieso dachte man in solchen Situationen eigentlich immer: Das war wie im Film? Wieso dachte man nicht: Das war wie im Leben?
    Das Wasser erreichte Ellas Magen.
    Der junge Mann schüttelte den Kopf und stand auf. Mit Tränen in den Augen ging er davon.
    Plötzlich hörte Ella die Geräusche um sich herum wieder in normaler Lautstärke, ohne Unterbrechungen, Ton- und Bildspur passten wieder übereinander.
    Die Sanitäter hatten die junge Frau auf eine Bahre gehoben.
    Ein Polizist kam auf sie zu: »Haben Sie den Unfallhergang gesehen?«
    Sie nickte.
    Hergang, Gehörgang.
    »Sie hat aus dem Ohr geblutet«, flüsterte sie.
    »Wir kümmern uns um sie.«
    Jetzt weinte Ella auch.
    »Würden Sie mir Ihren Namen nennen?«, fragte der Polizist.
    Ella hielt ihm ihre Tasche hin.
    Er reagierte nicht.
    Die Sanitäter schoben die Bahre in den Wagen. Zwei weitere Polizeiwagen parkten, die Kreuzung war längst gesperrt.
    »Ihr Name?«, fragte der Polizist Ella jetzt noch einmal.
    Sie öffnete ihre Tasche und holte ihren Personalausweis heraus. Sie schaute auf ihren Namen: Ella Rot.
    »Kommt sie in die Charité?«, fragte sie.
    »Geht es Ihnen gut?«, fragte der Polizist in einem gleichmäßigen Tonfall.
    Sie schüttelte den Kopf: »Sie hat aus dem Ohr geblutet.«
    »Kommen Sie, wir nehmen Sie mit ins Krankenhaus, dort gibt man Ihnen was zur Beruhigung«, sagte er wieder, und nichts hob sich in seiner Stimme, nichts senkte sich.
    Wenn der Film reißt, dann tritt nicht das Leben dahinter hervor, dann wird nur ein anderes dazwischengeschnitten. Alles findet auf einer Ebene statt, keine Bewertungen. Jemand spricht über seine Steuererklärung, und gleich danach steht er auf und knallt jemanden ab, alles im gleichen Film, im gleichen Leben.
    Ella hörte auf zu weinen und stieg in den Krankenwagen ein.
    Der Fahrer sagte mit Blick nach vorn: »Wir sind gleich da. Näher an der Charité kann man sich kaum zusammenfahren lassen.«
    Ella drehte sich weg.
    »Entschuldigung, ich wollte nicht…«, murmelte er.
    Da hielt der Krankenwagen, und alles wurde ganz hektisch. Als die Sanitäter die Bahre herunterließen, öffnete die junge Frau einmal kurz die Augen und schaute Ella an. Ella lächelte und sagte: »Ich warte auf Sie.«
    Die junge Frau nickte und schloss die Augen wieder. Die Schwellung ihrer Lippen war monströs.
    Man bedeutete Ella, in einem Warteraum Platz zu nehmen. Hier saßen eine türkische Familie, ein Bauarbeiter mit einem blutigen, von Staub bedeckten Verband um den linken Arm und ein junges, bleiches Mädchen, das an einem neongrünen Schal strickte, der bereits bis auf den Boden reichte und dem Schwanz einer Nixe glich.
    Ella grüßte nickend, nur der Bauarbeiter grüßte zurück. Dann überfiel sie schlagartig eine solche Müdigkeit, dass sie sich auf die freie Stuhlreihe legen musste. Das strickende Mädchen schaute sie unverwandt an. Ella stierte eine Weile auf die Fotos, die an der Wand hingen, billige Wechselrahmen an Nylonfäden, sie zeigten Bilder vom Meer, windstilles Blau, Schaumkronen, aufgewühlte See, dann schlief sie ein.
    Ella trug eine magentafarbene Badehaube, die mit einer Strassschnalle unter dem Kinn geschlossen wurde. Sie bewegte sich nicht, um sie herum raschelte es. Das Meer raschelt doch nicht, wunderte sie sich, das Meer plätschert, peitscht, tost, aber es raschelt nicht. Wo war sie? Sie tastete mit ihrer linken Hand die Schnalle ihrer Badehaube ab: Sie hatte die Form eines Seesterns. Sie fuhr mit der Hand über ihre Lippen (noch da), über ihrer Nase (groß) bis hin zu ihren geschlossenen Lidern. Ihre Wimpern fühlten sich drahtig an, künstlich, aufgeklebt. Sie riss einen Wimpernbogen ab, dann öffnete sie das Auge. Um sie herum kräuselten sich aufgerollte Filmrollen. Ihr ganzer Körper steckte in einem Meer aus Zelluloid. Sie versuchte den Kopf anzuheben, Land zu sehen, und es gelang ihr tatsächlich mit zwei Beinschlägen, etwas höher zu kommen. Sie war
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