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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Autoren: Annika Reich
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Wohnung mit einem Wildfremden tauschen, nicht mehr so viel an Paul denken und Natalia von Lady Stanhope erzählen. Lady Stanhope war eine Abenteurerin, die es allein und in Männerkleidung von England bis nach Syrien geschafft hatte. Da Ella es meist nicht einmal allein bis nach Hause schaffte, konnte sie von der Lady offensichtlich einiges lernen. Natalia würde sie gefallen. Natalia war vielleicht auch eine Abenteurerin, selbst bewusstlos hatte sie noch etwas Draufgängerisches ausgestrahlt.
    Als Ella vor ihrem Haus ankam, meinte sie kurz, einen Mann mit weißem Haar auf der anderen Straßenseite gesehen zu haben, aber sie drehte sich nicht um. Sie sperrte die Wohnung zweimal von innen ab, legte sich aufs Sofa und schlief eine Stunde so tief, dass ihr beim Aufwachen kurz entfallen war, was passiert war. Dann fiel ihr Blick auf ihre Schuhe neben dem Bett, und schlagartig sah sie Natalias Arm auf ihrem Fuß und das Blut wieder vor sich.
    Sie machte sich einen Kaffee, zog die dunkelroten Vorhänge zur Seite und setzte sich an den Schreibtisch. Sollte sie jetzt den Mann wegen des Wohnungstauschs anrufen? Aber was, wenn er ein Spinner war, ein Perverser, ein Mörder? Vielleicht war es doch keine so gute Idee. Da fiel Ellas Blick auf ein Buch über Lady Stanhope, und sie dachte: Würde die Lady heute noch leben, hätte sie bei so einer Lappalie wie einem Wohnungstausch nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Also würde sie das jetzt auch in Angriff nehmen, sie würde sich das jetzt trauen. Neues flößte ihr ohnehin weniger Angst ein als Altbekanntes.
    Das Telefon lag direkt neben dem Drink, den sie sich vor dem Rendezvous mit Paul gestern Abend noch gemacht hatte. Sie griff das dickwandige Glas und drehte es in ihren Fingern hin und her. Eine halb ausgedrückte Limone hatte die ganze Nacht an der Glaswand verbracht, obwohl sie nur ein paar Zentimeter in die hellgelbe Flüssigkeit hätte hinabgleiten müssen. Gleich würde sie anrufen, gleich. Sie gab der Limone einen Schubs und lehnte sich auf ihrem Stuhl so weit zurück, bis sie den Fernsehturm sehen konnte, dessen Kugel heute aussah wie ein silbern kandierter Apfel. Dann stellte sie den Drink zurück auf den Schreibtisch, holte den Zettel aus ihrer Hosentasche, nahm das Telefon und wählte die Nummer.
    »Horowitz«, meldete sich eine ältere Männerstimme.
    Ella stockte.
    »Hallo?«, fragte die Stimme.
    »Ich…«, stammelte sie.
    »Wer sind Sie?«
    »Horowitz?«, fragte sie. »Sind Sie der Horowitz?«
    »Meinen Sie den Pianisten? Der ist tot. Haben Sie das nicht mitbekommen, junge Dame? Er starb vor zwanzig Jahren in New York.«
    »Ach so«, sagte sie, »in New York.«
    »Ach so?«, entgegnete er. »Rufen Sie wegen der Wohnung an?«
    »Ja, ich hab Ihren Zettel gesehen«, antwortete sie. »Ich war nur gerade etwas durcheinander. Heute…«
    »Ich höre gerade Horowitz im Hintergrund, und Sie haben meinen Namen und die Musik in Ihrem entzückend jungen Gehirn wahrscheinlich zusammengeschaltet. Das ehrt Sie doch, das ehrt Sie. Ich heiße Horowitz und habe kein Klavier.«
    Sie lachte – trotz des ›entzückend jungen Gehirns‹ – und hörte nun tatsächlich leise Klavierklänge im Hintergrund.
    »Wollen wir jetzt endlos telefonieren, oder kommen Sie vorbei und wir trinken einen Tee und Sie schauen sich meine Wohnung an? Ich beiße nicht.«
    »Jetzt gleich?«
    »Wann denn sonst?«, entgegnete Horowitz. »Ich habe schon genug Zeit verloren, Wanda.«
    »Wanda?«
    »So hieß die Frau vom großen Horowitz, eine ziemliche Granate, diese Wanda.«
    »Granate?«, fragte Ella und begann wieder zu zweifeln, dass das alles eine gute Idee war, doch dann sagte sie: »Morgen früh.«
    »Morgen früh.«
    Heute würde sie sowieso nichts mehr schaffen: »Oder jetzt?«
    »Jetzt ist noch besser«, antwortete er.
    »Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragte sie.
    »Gefrühstückt?«, fragte er.
    »Es ist schon spät, ich weiß, aber ich habe noch nicht gefrühstückt. Und Sie?«
    »Ich auch nicht, ich frühstücke nicht.«
    »Mögen Sie Croissants?«
    »Croissants«, sagte Horowitz mit einer belegten Stimme, »ja, ich mag Croissants.«
    Die Wohnung lag in der Fasanenstraße direkt gegenüber vom Literaturhaus. Ella klingelte. Der Summer ertönte, sie stieg die grandiose Steintreppe hinauf in die Beletage. In der Tür stand ein schmaler, kleiner Mann mit grauem Haar, karierten Hosen, diesen Schuhen, die man auf Booten trug, und einer Hornbrille, an deren Bügel ein dünnes weißes Bändsel
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