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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Autoren: Annika Reich
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nicht weit vom Ufer entfernt. Am Ufer stand die blond gefärbte Fahrradkurierin und winkte ihr.
    »Gerissen«, rief sie Ella zu.
    »Der Film?«, rief Ella zurück.
    »Das Trommelfell.«
    »Hallo?«, hörte Ella plötzlich eine tiefe Stimme sagen, und eine Hand rüttelte sie leicht. Sie öffnete die Augen, vor ihr weiße Knie. »Sie gehören doch zu der Frau aus der Torstraße, oder?«, sagte die Stimme, die zu den weißen Knien gehörte.
    Ella richtete sich auf, strich sich durch die Haare, übers Gesicht. Wie lange hatte sie geschlafen?
    »Sie hat ziemliches Glück gehabt«, vernahm Ella die Stimme wieder. Sie gehörte zu einem frisch rasierten jungen Mann, der versuchte, seriös zu sein oder zumindest so zu wirken.
    Ella rieb sich die Augen.
    »Geht es Ihnen gut?«, fragte der Arzt, und das Arztsein gelang ihm von Satz zu Satz besser.
    »Ich glaube schon«, sagte sie.
    »Sie hat nach Ihnen gefragt und würde Sie gerne sehen. Ich kann Sie zu ihr bringen, aber nur kurz.«
    »Was?«, stammelte Ella und richtete sich auf. »Und das Trommelfell?«
    »Brauchen Sie was zur Beruhigung?«, fragte der Arzt.
    »Wenn es so was gibt«, sagte sie.
    Der Arzt lächelte (kurz blitzte etwas hinter der Arztfassade hervor, das ihr gefiel) und nahm sie mit in eines der vielen offenstehenden Zimmer.
    »Darf ich mir eine Farbe aussuchen?«, fragte sie.
    Er schaute sie fragend an.
    Die Pille war grün-weiß gestreift, und er drückte sie Ella direkt in die Handmulde.
    »Danke.«
    Er reichte ihr einen Plastikbecher mit Wasser, sie schluckte und gab ihm den Becher zurück. Dann bat er sie, ihm zu folgen.
    Endlose Gänge und Kreuzungen, durch die an einigen Stellen zwei Betten aneinander vorbeirangiert wurden, automatische Türen; Tropfe, die an faltigen Armen befestigt waren; Schwesternzimmer; Ärzte, die Patienten verabschiedeten. Die türkische Großmutter aus dem Wartezimmer saß nun auf einem Gang und hatte eine Plastikschachtel mit geschnittenen sauren Gurken auf dem Schoß. Einer der Enkel verzog das Gesicht, aber die Großmutter hatte ihn am Schlafittchen und schob ihm die runden Gurkenscheiben zwischen die Lippen, eine nach der anderen, als befüllte sie einen Münzautomaten. Die Schritte des Arztes hallten in Ella wider. Dann traten sie in ein Schleusenzimmer. Sie musste sich waschen, desinfizieren, Schutzkleidung anziehen, eine Maske über Mund und Nase ziehen und fühlte sich erstaunlich wohl in ihrer neuen Hülle.
    Als Ella endlich vor dem Krankenbett stand, schaute die junge Frau sie mit erschöpftem Blick an. Sie begrüßten sich leise mit heiseren Stimmen, die Fahrradkurierin mit einem leicht osteuropäischen Akzent. Um den Kopf der Frau war ein Verband gewickelt, auf ihrer Stirn klebten strohige Haarbüschel. Die Schürfwunden und geschwollenen Blutergüsse auf der rechten Gesichtshälfte traten nun deutlicher hervor als noch vorhin auf der Straße. Und auch die Lippen waren inzwischen so gebläht und wächsern, dass Ella unwillkürlich zurückwich, sobald ihr Blick auf sie fiel. Nur der tätowierte Pfau, der über dem randlosen Kragen des Krankenhauskittels hervorlugte, schien nichts abbekommen zu haben. Vom Hals abwärts war sie von einem strammgezogenen Leintuch bedeckt.
    »Du hast den Unfall gesehen?« In ihrem linken Handrücken steckte ein Katheter, der mit einem Tropf verbunden war, aus dem farblose Flüssigkeit rann.
    Ella versuchte, nicht auf das helle Blut zu schauen, das am Anfang des Schlauchs zu sehen war, und nickte wieder.
    »Ich heiße Natalia«, sagte sie.
    »Hallo Natalia, ich bin Ella.«
    »Danke, dass du mitgekommen bist«, sagte Natalia.
    »Du bist auf meinen Füßen gelandet, direkt auf meinen Füßen. Du warst bewusstlos.«
    »Das tut mir leid«, sagte sie.
    Warum, dachte Ella und fragte: »Tut es weh?«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie, »mein Kopf wummert, ich bin total müde. Mein Kopf… Ich kann mich an nichts erinnern. Sind meine Lippen, ich meine, sind sie…?«
    Natalia versuchte sich mit der linken Hand an den Mund zu fassen, wurde aber vom Katheter daran gehindert. Kraftlos ließ sie die Hand wieder sinken.
    Ella rieb sich die Oberschenkel, schaute Natalia an und schwieg.
    »Sind meine Lippen…, ich meine, sind sie irgendwie aufgeplatzt?«
    Ella wagte einen längeren Blick: »Nur ziemlich stark geschwollen, aber das wird wieder.«
    »Ich weiß nicht, was die Schwellung bedeutet.«
    »Bedeutet?«, fragte Ella.
    »Ich habe sie mir gerade erst machen lassen, weißt du? Und ich habe so viel
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