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319 - Paris - verbotene Stadt

319 - Paris - verbotene Stadt

Titel: 319 - Paris - verbotene Stadt
Autoren: Jo Zybell
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aus in den Bundesstaaten Griechenland, Kroatien, Italien und Spanien landeten.
    Damals studierte Jeanne gerade postmoderne amerikanische Literatur in New York – und verliebte sich bei der Gelegenheit unsterblich in den jüngeren Sohn ihrer Gastfamilie. Wenn sie zurückblickte, vermochte sie kaum zu fassen, was seitdem alles geschehen war: ihre Ausweisung aus der Amerikanisch-Pazifischen-Union, ihr Aufstieg in die Spitze der ARF, die Eroberung beinahe der gesamten Vereinigten Staaten von Europa, die fast vollständige Unterwerfung von Paris.
    Veteranen hatten Guerillabewegungen wie die ARF überall in Europa zu neuem Leben erweckt. Doch nur hier in Paris und in Berlin wehrten sich noch nennenswerte freie Kampfverbände gegen die chinesische Übermacht. In Deutschland befehligte sie ein ehemaliger Fußballnationalstürmer, in Frankreich eine junge Literatin. Jeannes Vorgänger, ein Philosoph, hatte sich Anfang September nach seiner Gefangennahme selbst getötet; Jeannes Wahl durch Urabstimmung war eindeutig ausgefallen.
    »Du hast noch nichts gegessen, mia Bella!« Ein hünenhafter Mann von mindestens drei Zentnern Lebendgewicht mit Vollbart und barocker, rabenschwarzer Lockenpracht kam auf sie zu: Rudolpho Juventus, der Chefkoch der Brigade. Wie immer strahlte er, und wie immer umgarnte er sie mit seinen verliebten Blicken. Er reichte ihr einen Blechteller mit dampfendem Essen. »Spaghetti Bolognese!« Er setzte den Teller auf ihren flachen Händen ab. »Lass es dir schmecken, mia bella Jeanne.«
    Wie immer spitzte er die dicken, schrundigen Lippen, um sich seine Belohnung abzuholen, und wie immer küsste sie ihn nur flüchtig auf die bärtige Wange. »Danke, Rudy. Bist ein Schatz.«
    Er lächelte wehmütig, blickte in den Himmel und machte die theatralische Geste eines Mannes, der vergebens hoffte. Eigentlich hatte er sich längst abgefunden damit, dass er Jeanne nicht kriegen würde, dass ihr Herz an einem anderen hing. Eigentlich – denn so ganz aufgeben würde einer wie Rudolpho Juventus nie.
    Der große schwere Mann in dem langen, schwarzweiß gestreiften Hemd unter dem grauen Ledermantel stammte aus dem Bundesstaat Italien und hatte in den Reihen der norditalienischen Rebellenbrigade der Juventi gefochten; bis sie nach zwei Wochen unterging. Mit den Resten der von den Chinesen aufgeriebenen europäischen Einheiten war er über die Alpen nach Frankreich geflohen. Seit drei Jahren kochte er für Jeannes Brigade und kämpfte an ihrer Seite.
    Rudolpho schaukelte zurück zum Küchenwagen, einem ausrangierten Tieflader, auf dem man in alten Zeiten Flugzeugrümpfe aus einer der Werkhallen gezogen hatte; dabei klagte Rudy seiner verstorbenen Mutter sein Leid. Das tat er gern und oft – wenn er nicht gerade sang oder fluchte.
    Von ihren neun Obristen hielt Jeanne ihn für den wertvollsten. Nicht nur wegen seines Mutes und seiner Kochkünste – die Kampfmoral einer Armee hing in Jeannes Augen auch von der Qualität ihrer Verpflegung ab –, sondern weil er Humor und Herz und ein Gespür für Stimmungen hatte.
    Jeanne setzte sich auf eine Kiste vor das Feuerfass und aß langsam und konzentriert. Es schmeckte richtig gut – so lange sie sich nicht fragte, von welchem Tier das Fleisch für die Bolognese stammte.
    Nach dem Essen ging sie ins Lazarett und schaute nach den Verwundeten, die dort das Kranklager hüten mussten. Die letzten Kämpfe lagen schon ein paar Tage zurück und so fand sie nicht einmal zwei Dutzend Patienten.
    Anschließend schlenderte sie durch die Mannschaftsquartiere. Die meisten ihrer Kämpfer und Kämpferinnen waren jünger als Jeanne selbst. Sie sah bei Schießübungen und beim Nahkampftraining zu, erkundigte sich nach dem Ergehen der Männer und Frauen, tröstete die Pessimistischen unter ihnen, ermahnte die, denen sie ansah oder von denen sie wusste, dass sie ihre Gymnastik oder ihre mentalen Übungen vernachlässigten oder es mit der Körperpflege nicht so genau nahmen.
    Schmutz und Gestank störten Jeanne im Grunde nicht wirklich, gehörten ja in Kampfzeiten zum Alltag dazu. Es ging ihr mehr ums Prinzip, um einen Damm gegen Chaos und Hoffnungslosigkeit: Alle drei Tage frische Wäsche, regelmäßige Mahlzeiten, jeden Tag zehn Minuten Gymnastik und zwanzig Minuten Meditation – oder wenigstens ein paar Gebete, wenn es unbedingt sein musste –, das hielt die Leute am Leben.
    Der Tod klopfte nach Jeannes Erfahrung nicht erst, wenn man sich einen Bombensplitter oder einen Laserstrahl fing, der
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