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294 - Der Keller

294 - Der Keller

Titel: 294 - Der Keller
Autoren: Manfred Weinland
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geflossen war, deren Haut weiß wie Kalk schimmerte.
    Sie hatte Paavel und Jurgis allein gelassen und den für sie offenbar letzten Ausweg gewählt.
    Das Messer am Boden zog Paavels Blick magnetisch an, und fast hätte er seiner Verzweiflung nachgegeben, es aufgehoben und wäre Aljescha gefolgt.
    ***
    Die Sieche Olga hauste in einer Nebenstraße von Alytus, in der außer ihr kaum jemand lebte. Paavel kannte keinen, der ihr Haus jemals betreten hätte; dafür kam die Amme irgendwann einmal in fast jedes Haus, denn sie war eine gefragte Person. Über die Jahre hatte sie mehr als dreihundert Kindern dabei geholfen, das Licht der Welt zu erblicken. Sie war geachtet und respektiert, aber niemand pflegte freundschaftlichen Umgang mit ihr - jedenfalls niemand, von dem Paavel Kolitz jemals gehört hatte.
    Klar schien nur: Sie stand unter dem persönlichen Schutz der Obrigkeit, ohne dass jemand zu sagen vermocht hätte, warum eigentlich schon der dritte Bürgermeister in Folge seine schützende Hand über die krumme Alte hielt. Das nährte die um sie kursierenden Gerüchte, aber eine Antwort hatte in all der Zeit offenbar niemand gefunden.
    Horowitz hätte Auskunft geben können, aber ihn danach zu fragen hatte selbstzerstörerische Züge. Auch wenn die Menschen ihn nicht liebten, so wäre doch keinem in den Sinn gekommen, seinen Zorn vorsätzlich auf sich zu ziehen.
    Aus den umliegenden Häusern und Gassen drang kaum ein Laut, und gerade deswegen fühlte Paavel Kolitz sich beobachtet, als er das eiserne Tor der Mauerumfriedung aufdrückte und den schmalen, kiesbestreuten Weg zum Haus entlangging.
    Es war Nachmittag und Aljescha noch nicht ganz kalt. Jurgis trug er in einer Decke eingewickelt und an seine Brust gedrückt. Das Kind hatte sich auf dem ganzen Weg hierher kaum bemerkbar gemacht. Als Paavel nun in den Schatten des heruntergekommenen Häuschens trat, wurde es schlagartig unruhig, ohne zu weinen. Es wand sich nur hin und wieder wie unter den Krämpfen einer Kolik. Paavel strich ihm mechanisch über den Rücken.
    Dann stand er vor dem Haus. Die Hand, die eben noch das Kind gestreichelt hatte, klopfte gegen die Tür aus Holz. Die rautenförmige Glasscheibe, die in Kopfhöhe eingelassen war, schepperte locker in ihrer Halterung.
    Eine Weile sah es so aus, als würde niemand öffnen. Doch dann erklangen die für Olga typischen Schritte mit dem schleifenden Nachziehen des einen Beines.
    Da die Amme vor dem Öffnen erst durch die Glasraute spähte, ging Paavel eigentlich davon aus, dass sie gar nicht erst aufmachen würde, um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Was mit Aljescha passiert war, konnte sie nicht wissen. Noch wusste niemand außer ihm davon.
    Aber die Türe öffnete sich. »Du?«, keifte Olga ihn an, wobei ihr Blick nur flüchtig auf ihn gerichtet war, sich dann wie ein Blutegel an dem Bündel festsaugte, das Paavel mitgebracht hatte. »Was willst du?«
    »Mit dir sprechen.«
    »Das letzte Mal hast du mich davongejagt! Ich musste Angst um mein Leben haben!«
    »Kann ich reinkommen?«
    »Aber ohne das Balg!« Ihre Stimme wurde schrill. Sie schien tatsächlich Angst vor Jurgis zu haben.
    Paavel sah sich um. Unmittelbar hinter der Tür stand ein geflochtener Korb, mit dem die Amme wahrscheinlich Holz für den Ofen sammelte. Jetzt war er leer. »Ich lege ihn da hinein, bis wir fertig sind«, sagte Paavel. »Hier draußen kann ich ihn nicht lassen, aber bei der Tür wird er dich nicht stören.«
    »Er stört mich überall .« Trotz ihres ablehnenden Tons glaubte Paavel auch Neugierde in ihrer Stimme zu bemerken. Sie fragte sich, was ihn zu ihr führte.
    Dabei war es ganz einfach: Aljescha war tot. Was für ihn bedeutete, dass auch diejenige, die sie in Misskredit gebracht und letztlich ihren Tod verschuldet hatte, ebenfalls sterben sollte.
    Paavel zuckte zerknirscht mit den Schultern. Er gab vor, sich zum Gehen abzuwenden. Das wirkte.
    »Warte!«
    Er drehte sich der Alten wieder zu. »Was ist noch?«
    »Stopf ihn in den Korb!«, sagte Olga grob. »Und dann komm rein und sag, was du von mir willst!«
    Paavel trat ein. Schwere Düfte empfingen ihn im Innern des Hauses. Sie räuchert sich selbst , dachte er und musste den Hustenreiz unterdrücken. Auf Jurgis hatten die schweren Aromen erstaunlicherweise keine nachteilige Wirkung. Er schien sogar noch ruhiger zu werden.
    Paavel folgte der Amme über den Vorraum und einen engen Flur in ein völlig überladen möbliertes Zimmer.
    »Es ist nicht sehr ordentlich«,
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