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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition)
Autoren: David Safier
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kleines Mädchen, das umgebracht wurde …»
    «Aber so», mein Hals schnürte sich zu, «will ich dich nicht in Erinnerung behalten.»
    «Aber das bin ich nun mal.»
    Es war, als ob mir tonnenschwere Gewichte auf der Brust die Luft abdrückten.
    «Ich bin aber auch noch viel mehr», redete sie weiter, «erinnere dich an mich, wie ich war.»
    Durch meinen Kopf schossen die Bilder von der wahren Hannah: wie sie aß, wie sie Ben Rothaar küsste, mich wütend ansah, freche Bemerkungen machte, mir am Krankenbett Geschichten erzählte und ja, auch, wie sie tot in der Speisekammer lag.
    «Versprichst du mir das, Mira?»
    «Ja», sagte ich leise, und der Druck auf der Brust fiel von mir ab.
    Hannah umarmte mich: «So werde ich immer bei dir sein.»
    «Ich aber auch», lachte hinter mir der Spiegelmeister.
    Ich nahm ihn jedoch kaum wahr. Mit der Schuld würde ich leben können, wenn ich mich an das Wahre erinnerte. Hannah gab mir noch einen Kuss, und ich verschwand aus der Welt der 777  Inseln. Diesmal für immer.
     
    Ich war wieder im Kanal bei dem geschwächten Daniel, der im Abwasser an die Wand gelehnt schlief, und bei Rebecca, die mich verwirrt ansah.
    Ich brauchte ein bisschen, bis ich die Sprache wiederfand und unbeholfen versuchte, das Erzählte für die Kleine wenigstens ein bisschen zu ordnen.
    «Das war die Geschichte, wie ich meine tote Schwester wiederfand …», versuchte ich zu erklären.
    «Und die Geschichte», sagte Rebecca, «wie du aufgehört hast zu kämpfen.»
    So sind nun mal Geschichten. Jeder Zuhörer kann etwas ganz anderes in ihnen sehen.
    «Ja», bestätigte ich, «kein Kampf mehr.»
    Rebecca freute sich darüber.
    Und ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

78
    Am nächsten Morgen gingen wir drei zurück zu dem Kanaldeckel an der Prosta-Straße. Rebecca konnte noch aus eigener Kraft durch das Abwasser waten, aber Daniel musste ich beim Gehen stützen. Am Ausstieg angekommen, warteten wir wieder auf Amos und den Lastwagen. Wieder vergeblich.
    Stattdessen kehrte Josef aus dem Ghetto zu uns zurück, sein Gesicht war vor lauter Tränen ganz verquollen: «Die SS … sie sprengt im Ghetto die Einstiege in die Kanäle … niemand kann mehr zu uns gelangen … alle in der Nalewki  37 sind verloren …»
    Seine Mascha war verloren.
    Und wir konnten nicht mehr ins Ghetto zurück. Wir mussten in den Lastwagen, oder wir würden hier unten verenden.
    Gegen neun Uhr trat Amos endlich an den Kanaldeckel. Ich stand direkt unter ihm. Er tat so, als ob er sich die Schuhe zubände, und sagte: «Ihr müsst noch warten.»
    «Was ist los?», wollte ich wissen.
    «Ich habe den Lastwagen nicht bekommen. Die Scheißpolen haben sich nicht an die Absprache gehalten.»
    «Wir … wir schaffen das hier nicht länger», protestierte ich.
    «Mira, Liebste. Ich hol euch hier raus.»
    Das wollte ich ihm immer noch glauben.
    «Gib mir bis zum Abend», bat er.
    «Hast du nicht gehört, wir schaffen das nicht …»
    «Mira, früher ist zu gefährlich.»
    Ich sah kurz rüber zu Daniel, der kaum noch aufrecht an der Kanalisationswand sitzen konnte.
    «Du musst uns jetzt rausholen, Amos. Sonst sterben wir hier unten alle, es gibt nichts Gefährlicheres als das.»
    Amos verstand. Nach kurzem Abwägen sagte er: «Dann werde ich einen Wagen mit Gewalt besorgen.»
    «Tu das.»
    Er entfernte sich rasch, und ich sah zu den Menschen, die um mich herumstanden oder im fauligen Wasser saßen. Noch waren bei weitem nicht alle von den anderen Kanaleingängen zurückgekehrt. Hoffentlich würden sie rechtzeitig da sein, wenn Amos wiederkam.
    Wenn er denn kam.
    Und hoffentlich würde Daniel bis dahin aushalten.
     
    Nach etwa einer Stunde hörte ich, wie ein Lastwagen nah beim Ausstieg anhielt.
    Amos.
    Das musste er einfach sein!
    Der Kanaldeckel wurde angehoben, Amos beugte seinen Kopf zu uns herab und rief: «Alle raus! Alle raus!»
    Doch auch wenn hier jetzt mehr Flüchtlinge versammelt waren als eine Stunde zuvor, waren immer noch nicht alle da. Samuel gab Josef und Abraham den Befehl, die anderen zu holen. Doch Abraham weigerte sich: «Bis wir wieder zurück sind, seid ihr alle weg.» Auch Josef hatte sichtlich seine Zweifel.
    Samuel insistierte: «Es ist ein Risiko, und ich kann euch nicht dazu zwingen. Aber es ist notwendig. Es geht um ihre Leben.»
    Josef reichte das, um loszulaufen, Abraham jedoch nicht: «Ich bin doch nicht verrückt!» Samuel erkannte, dass es keinen Sinn machte, mit ihm zu diskutieren, und blickte zu dem Hageren.
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