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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition)
Autoren: David Safier
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    Gleich am ersten Tage des Erlasses gingen mein Vater, mein Bruder und ich gemeinsam durch den eisigen Novemberregen zum Markt. Damals trugen wir alle noch gute Mäntel, sodass uns die Kälte nichts anhaben konnte.
    Bis der deutsche SS -Soldat kam.
    Er trat uns auf dem Bürgersteig entgegen, und wir Kinder wussten nicht genau, was wir tun sollten, ihm ausweichen oder ihn grüßen. Mein Vater hatte von einem Freund noch am Abend zuvor geschildert bekommen, dass er geschlagen worden war, weil er es gewagt hatte, einen deutschen Soldaten ergeben zu grüßen. So warnte Papa uns: «Schaut nach unten.»
    Wir gingen weiter, den Blick zu Boden, an dem Deutschen vorbei. Doch der Soldat hielt uns an und schrie: «Was ist Jude, grüßt du nicht?»
    Ehe mein Vater antworten konnte, wurde er geschlagen. Mein Vater wurde geschlagen! Der ehrwürdige Mann, der angesehene Arzt, der Vater, zu dem wir immer aufsahen, der in seiner Strenge uns gegenüber so stark, gar übermächtig schien, wurde geschlagen.
    «Entschuldigung», sagte er, während er sich mühsam aufrappelte und das Blut von seiner Lippe in den grauen Bart tropfte.
    Mein starker Vater entschuldigte sich? Dafür, dass er geschlagen wurde?
    «Und was geht ihr auf dem Bürgersteig?», blaffte der Deutsche. «Ihr habt auf der Straße zu gehen!»
    «Selbstverständlich», antwortete Papa und zog uns auf die Straße.
    «Barfuß!», befahl der Soldat.
    Wir schauten ihn fassungslos an. Er nahm sein Gewehr von der Schulter, um seinem Befehl Nachdruck zu verleihen. Ich sah zu den tiefen Pfützen vor uns.
    «Kinder, zieht euch die Schuhe aus», drängte mein Vater, «und die Socken.»
    Er machte es vor und stellte sich mit nackten Füßen in die kalte Pfütze. Ich war zu schockiert, um überhaupt zu reagieren, aber mein Bruder Simon, der damals so alt war wie ich jetzt, wurde wütend. Die Demütigung Papas trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht. Er baute sich vor dem Soldaten auf, obwohl er – wie alle in unserer Familie – eher schmächtig war, und schrie: «Lassen Sie ihn in Ruhe!»
    «Maul halten!»
    «Mein Vater hat einem deutschen Soldaten das Leben gerettet!»
    Anstatt zu antworten, nahm der Soldat den Gewehrkolben und schlug Simon damit ins Gesicht. Mein Bruder stürzte zu Boden, Papa und ich liefen sofort zu ihm. Seine Nase war gebrochen, ein Zahn herausgeschlagen.
    «Schuhe ausziehen!»
    Simon konnte gar nichts tun, er musste vor Schmerz weinen. Es war das erste Mal, dass eines von uns Kindern geschlagen wurde. Und dann auch noch so brutal.
    Mein Vater zog ihm die Schuhe aus, damit der Soldat nicht noch mal zuschlug. Ich hatte so viel Angst, dass ich ebenfalls Schuhe und Socken auszog. Mein Vater und ich halfen Simon, der immer noch weinte, wieder auf die Beine. Papa nahm uns beide an den Händen und quetschte sie ganz fest, als könne er uns damit Halt geben. So gingen wir barfuß durch die eiskalten Pfützen.
    Und der Soldat rief: «Ich hoffe, ihr habt eure Lektion gelernt.»
    Das hatten wir. Vater hatte begriffen, dass die Deutschen keine Regeln aufstellten, auf die man sich verlassen konnte: Grüßen, nicht grüßen, es war einerlei, die Regeln wurden immer so ausgelegt, dass sie einen quälen konnten. Und Simon wusste von diesem Augenblick an, dass er sich nie wieder mit einem Deutschen anlegen würde. Ein Schlag, ein herausgeschlagener Zahn, eine gebrochene Nase, und sein Wille zum Widerstand war für immer gebrochen. Auch ich begriff etwas, während ich mit nackten Füßen durch die eiskalten Pfützen ging, meine Zehen vor Kälte erst weh taten, dann taub wurden und mein Vater mich voller Scham ansah: Die Erwachsenen konnten mich nicht mehr schützen.
    Papa wusste das auch. Ich sah es in seinen traurigen Augen. Er litt noch so viel mehr darunter als ich. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, so wie er es mit mir als kleines Kind nach einem Albtraum getan hatte. Doch das hier war kein böser Traum, aus dem man erwachen konnte. Der deutsche Soldat wollte, dass wir weiter durch die Pfützen marschierten. Auf und ab. Als Spektakel für alle Umstehenden. Die polnischen Passanten sahen betreten zur Seite. Jedenfalls die meisten. Einige von ihnen lachten aber auch. Einer grölte sogar: «Endlich sind die Juden in der Gosse!» Während wir so erniedrigt wurden, drückte ich die Hand von Papa und flüsterte ihm zu: «Ich liebe dich, egal was passiert.»
    Damals hatte ich ja auch noch nicht geahnt, was alles passieren kann.
     
    Vom Begräbnis
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