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28 Tage lang (German Edition)

28 Tage lang (German Edition)

Titel: 28 Tage lang (German Edition)
Autoren: David Safier
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nahm die Rose noch mal in die Hand und spielte mit dem Gedanken, sie doch mit ins Ghetto zu nehmen. Aber das wäre verrückt. Falls ich dem Polizisten noch mal begegnen sollte, würde die Rose mich verraten. Wie hätte ich erklären sollen, dass ich sie nicht am Grab gelassen hatte? Ich konnte wohl kaum sagen: «Ach, der Tote sieht sie ja doch nicht.»
    Ich ärgerte mich über mich selber – ich durfte mich nicht mehr von den Gedanken an diesen Jungen ablenken lassen! Ich ließ die Rose liegen, sagte leise «Danke, Waldemar» und ging zu der Mauer, die an den jüdischen Friedhof grenzte. Dort blickte ich mich um, aber nirgendwo waren Soldaten oder Polizisten zu sehen. Ich hastete zu einer ganz bestimmten Stelle mit präparierten Steinen. Die konnte man herauslösen, bis ein großes Loch entstand, das die organisierten Schmuggler benutzten, um tonnenweise Waren, darunter sogar Kühe und Pferde, ins Ghetto zu schaffen. Ich entfernte den kleinsten Stein und blickte vorsichtig durch das Loch. Soweit ich sehen konnte, war auf der anderen Seite niemand. Sofort begann ich weitere Steine aus der Mauer zu nehmen. Dieser Moment war der gefährlichste: Während ich die Steine lockerte, konnte ich auf beiden Seiten entdeckt werden und hätte keine Chance, mich herauszureden oder gar zu entkommen.
    Mein Herz schlug vor Aufregung bis zum Hals, und der Angstschweiß trat wieder auf meine Stirn. Jederzeit konnte ich erwischt und erschossen werden. Wenigstens hätte ich es dann nicht weit zu meinem Grab.
    Als das Loch gerade groß genug war, zwängte ich mich hindurch und machte mich sofort daran, die Steine wieder einzusetzen. Einerseits damit die Wachen die Lücke in der Mauer nicht bei einem Rundgang bemerkten und für immer verschließen würden. Andererseits, damit die Schmuggler nicht Verdacht schöpften, dass jemand anderes ihre Passage nutzte, und sie mir bei meinem nächsten Gang auf die polnische Seite auflauerten. Vielleicht hätten sie mich nicht gleich umgebracht, aber ich hatte es, so hatte Ruth mich gewarnt, mit äußerst brutalen Menschen zu tun.
    Meine Hände zitterten immer mehr, ich war nervöser als sonst, wahrscheinlich wegen der Begegnung mit den Schmalzowniks. Ein Stein fiel mir aus der Hand, halb auf den Fuß. Ich biss die Zähne zusammen, um keinen verräterischen Laut von mir zu geben. Am liebsten wäre ich weggelaufen, aber ich musste die Mauer wieder schließen.
    Um mich zu beruhigen, ertastete ich das Moos vor den Steinen. Es war weich und feucht. Wieder spürte ich, dass es auf der Welt noch etwas anderes gab als meine Angst. Etwas ruhiger hob ich den Stein wieder vom Boden auf, meine Hand zitterte dabei nicht mehr ganz so sehr, und setzte ihn in die Lücke. Nur noch fünf Steine: Aus der Ferne hörte ich plötzlich laute Gebete, irgendwo auf dem Friedhof war eine Beerdigung. Im Ghetto wurde andauernd gestorben. Nur noch vier Steine: Einer der Trauernden nieste. Nur noch drei Steine: Aus einer anderen Richtung hörte ich schwere Schritte. Wachen? Ich drehte mich nicht um. Umdrehen würde wertvolle Zeit kosten. Nur noch zwei Steine: Kamen die Schritte näher? Nur noch ein Stein: Nein, sie entfernten sich. Das Loch war wieder geschlossen. Endlich.
    Ich blickte mich um und erkannte: Die Schritte gehörten zu zwei deutschen SS -Soldaten. Sie gingen zu der Trauergemeinde, die ungefähr zweihundert Meter entfernt von mir war, vielleicht um die Trauernden zu quälen. So etwas taten sie gern.
    Geduckt huschte ich mit meinen Taschen von der Mauer weg. Drei Gräber nach links, dann zwei nach rechts. Ich hielt kurz an, nahm die Kette mit dem Jesus-Kreuz vom Hals und warf sie zu den Einkäufen in die Tasche. Danach griff ich in einen kleinen Busch, ertastete darin ein kleines Stückchen Stoff und holte es heraus. Es war meine Armbinde mit dem Davidstern, die ich dort deponiert hatte. Ich streifte sie mir über.
    Jetzt war ich nicht mehr Dana, die Polin.
    Jetzt war ich wieder Mira, die Jüdin.
    Mit mir durfte jeder Deutsche machen, was er wollte. Und jeder Pole. Sogar jedes Mitglied der Judenpolizei.
    Immer wenn ich diese Armbinde anzog, erinnerte ich mich an den Tag, an dem ich sie das erste Mal hatte tragen müssen. Ich war damals dreizehn, es gab das Ghetto noch nicht, aber bereits jede Menge Schikanen gegen die Juden. Schon im November 1939 befahlen die Nazis, dass jeder Jude den Stern tragen musste. Natürlich wurden die Binden nicht etwa an uns verteilt, wir Juden mussten sie uns selber nähen oder von
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