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275 - Licht und Schatten

275 - Licht und Schatten

Titel: 275 - Licht und Schatten
Autoren: Jo Zybell
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Gefahren…
    Er hasste sie inzwischen - oder nein: Er hasste Es . Denn es war nicht die heilige Jungfrau Maria, für die sie es anfangs gehalten hatten. Im Gegenteil - es war der Teufel selbst, der sie alle ins Verderben gerissen und unter seine Knute gezwungen hatte.
    Er hasste sich selbst dafür, dass er die Stimme des Dämons lange Zeit für die Stimme der Gottesmutter gehalten hatte. Seit er es besser wusste, seit er Es durchschaut hatte, betete er zu der einzigen Mutter, die er kannte, die er verehrte, an die er sein Leben lang geglaubt hatte - solange er noch gelebt hatte. An die Jungfrau Maria.
    Niemand durfte sich Mutter nennen, außer ihr. Niemand durfte ihm Befehle geben, außer ihr. Niemand durfte Lebenskraft nehmen oder geben, außer ihr.
    O du glorwürdige und gebenedeite Jungfrau, unsere Frau, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin, versöhne uns…
    Einst war Bartolomé de Quintanilla als Dominikanermönch mit Christoph Columbus in die neue Welt aufgebrochen, hatte versucht, die schmutzigen Heiden in Las Indias zu bekehren.
    Das war ein Fehler gewesen, Gott wusste es! Die Wilden hatten sich gegen die Bekehrer gewandt, und es war ihm, der Mannschaft und den restlichen Passagieren der Doña Filipa nur mit knapper Not die Flucht gelungen, während hinter ihnen Santo Domingo unterging.
    Doch das Böse hatte sie verfolgt. Nur wenige Tage später, am 10. März Anno Domini 1499, hatte es sie auf hoher See eingeholt und verschlungen. Bartolomé wusste bis heute nicht, was das für ein blaues Flimmern gewesen war, das sie verschlungen hatte. Aber als die wenigen, die das Toben der Naturgewalten überstanden hatten, wieder in irdische Gefilde und in eine andere Zeit ausgespien wurden, hatten sie sich zu körperlosen Schemen gewandelt. Und Mutter - der Teufel! - war ihrer aller Gebieter gewesen. [3]
    Nun suchte er sein Seelenheil im Gebet, nicht akzeptierend, dass er seine Seele längst verloren hatte. Er musste immer weiter beten, damit Es ihn nicht durchschaute, seine Zweifel nicht erriet, seine Verachtung und seinen Zorn nicht spürte.
    ... unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin, versöhne uns mit deinem Sohn, empfiehl uns deinem Sohn, stelle uns vor deinen Sohn. Amen.
    Sein Leben war ein einziges Gebet, seit er Es durchschaut hatte, seit er wusste, dass Es ein Dämon war. Diese Gewissheit hatte sich in ihm festgesetzt, sie war unerschütterlich inzwischen. Und diese Gewissheit schwächte den Einfluss Mutters auf ihn; des Bösen, dessen Verkörperung wie ein von Bernstein umhüllter Felsen unterhalb der Wasserlinie am Kiel der Karavelle hing und mit ihm verwachsen war.
    Manchmal glaubte Bartolomé de Quintanilla, das böse Ding sei die Karavelle.
    Er wusste, dass er der Einzige an Bord war, der Es durchschaut hatte. Die anderen begriffen nichts, gar nichts. Aber die hatten ja auch nicht seinen Glauben und die göttliche Unterstützung, die er daraus zog.
    Sie kletterten in der Takelage herum, sie schwebten halbstofflich in der Kombüse, als müssten sie kochen, sie drehten am Ruder, als könnten sie den Kurs bestimmen, und unter Deck spielten sie schlafen, klar Schiff und Vorräte sichten.
    All das taten sie in Erinnerung an ihr früheres Leben, obwohl allein der Wille des Dämons die Karavelle steuerte. Es richtete die Segel aus, Es lenkte das Schiff durch die Ostsee, Es fuhr, wohin Es wollte. Es folgte jener eigenartigen Anziehungskraft, jenem Glanz, nach dem Es gierte und der das ganze Kollektiv nährte. Viel mehr und nachhaltiger, als es die Lebenskraft der Menschen vermochte, die sie im gleichen Moment, da sie sie berührten, versteinerten.
    Und er, Bartolomé de Quintanilla, hatte teil an diesem Töten, gegen seinen Willen und gegen seinen Glauben.
    Stehe mir bei, Heilige Jungfrau! , betete der Padre. Stehe mir bei und rette mich vor dem Bösen…
    Keiner der anderen betete. Sie alle hatten nur Ohren für den Dämon, den sie Mutter nannten. Doch einer von ihnen fehlte seit geraumer Zeit: Alfonso Eduardo Derdugo Alvarez. Er war auf ein fremdes, fliegendes Schiff übergewechselt, das ihn zu einer Siedlung bringen sollte. Doch diese Station - so hatten die Fremden ihre Heimat genannt - lag wohl viel weiter entfernt als angenommen, denn Mutter folgte ihm nicht. Von irgendwo her floss dem Kollektiv die Lebenskraft zu, die Alvarez sammelte, doch nur sehr spärlich, als müsse sie unendliche Weiten überwinden und dabei einen Teil ihrer Kraft einbüßen. Trotzdem: Wo immer Alvarez auch war, dort starben
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