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2666

2666

Titel: 2666
Autoren: Roberto Bolaño
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wisse ihr Bruder das noch gar nicht, sie überlege, die Werkstatt zu verkaufen, sie habe im Flugzeug ein Buch ihres Bruders gelesen, fast habe sie der Schlag getroffen, so verblüfft sei sie gewesen, und auf dem Weg durch die Wüste habe sie die ganze Zeit an ihn gedacht.
    Daraufhin bat Lotte um Entschuldigung und bemerkte erst jetzt, dass sie weinte.
    »Wann gedenken Sie nach Paderborn zurückzukehren?«, hörte sie die Verlegerin fragen.
    Und dann:
    »Geben Sie mir Ihre Adresse.«
    Und dann:
    »Sie waren ein sehr blondes, sehr blasses Kind, und manchmal brachte Ihre Mutter Sie mit, wenn sie zum Arbeiten ins Haus kam.«
    Lotte überlegte: Welches Haus meinte sie? Wie sollte ich mich daran erinnern können? Dann aber fiel ihr das einzige Haus ein, in das einige Leute aus dem Dorf zum Arbeiten gingen, der Stammsitz des Barons von Zumpe, und sie erinnerte sich wieder an das Haus und an die Tage, an denen sie ihre Mutter begleitet und ihr geholfen hatte, Staub zu wischen, zu fegen, Leuchter zu polieren, Böden zu bohnern. Aber bevor sie etwas antworten konnte, sagte die Verlegerin:
    »Ich hoffe, Sie werden in Kürze von Ihrem Bruder hören. Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen. Auf Wiederhören.«
    Sie legte auf. Lotte in Mexiko hielt noch eine Weile den Hörer ans Ohr gepresst. Die Geräusche, die sie hörte, waren wie die Geräusche aus einem Abgrund. Geräusche, die jemand hört, der in einen Abgrund stürzt.
    Eines Nachts, drei Monate nach ihrer Rückkehr aus Mexiko, erschien Archimboldi.
    Lotte wollte gerade ins Bett gehen, trug bereits ihr Nachthemd, da klingelte es an der Tür. Sie fragte über die Gegensprechanlage, wer da sei.
    »Ich bin es«, sagte Archimboldi, »dein Bruder.«
    In dieser Nacht saßen sie bis zum frühen Morgen beisammen und redeten. Lotte erzählte von Klaus und den ermordeten Frauen in Santa Teresa. Sie erzählte auch von Klaus' Träumen, Träumen, in denen ein Riese erschien, der kommen und ihn aus dem Gefängnis befreien würde, obwohl du, sagte sie zu Archimboldi, gar nicht mehr wie ein Riese aussiehst.
    »Ich war nie einer«, sagte Archimboldi, während er durch Wohn- und Esszimmer von Lottes Wohnung schlenderte und vor einer Konsole stehen blieb, wo aufgereiht ein gutes Dutzend seiner Bücher standen.
    »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, sagte Lotte nach längerem Schweigen. »Ich habe keine Kraft mehr. Ich verstehe das alles nicht, und das wenige, was ich verstehe, macht mir Angst. Nichts ergibt einen Sinn«, sagte Latte.
    »Du bist nur müde«, sagte ihr Bruder.
    »Alt und müde, was mir fehlt, sind Enkel«, sagte Lotte. »Du bist erst recht alt«, sagte Lotte. »Wie alt eigentlich?«
    »Über achtzig«, sagte Archimboldi.
    »Ich habe Angst, ich könnte krank werden«, sagte Lotte. »Stimmt es, dass du vielleicht den Nobelpreis bekommst?«, fragte Lotte. »Ich habe Angst, dass Klaus sterben könnte. Er ist stolz, ich weiß nicht, von wem er das hat. Werner war nicht so«, sagte Latte. »Du und Papa auch nicht. Warum nennst du Papa, wenn du von ihm sprichst, den Einbeinigen? Warum Mama die Einäugige?«
    »Weil sie es waren«, sagte Archimboldi, »hast du das vergessen?«
    »Manchmal ja«, sagte Lotte. »Das Gefängnis ist grauenhaft, so grauenhaft«, sagte Lotte, »auch wenn man sich mit der Zeit daran gewöhnt. Es ist wie Krankwerden«, sagte Lotte. »Die Frau Bubis war sehr nett zu mir, wir haben nur kurz gesprochen, aber sie war sehr nett«, sagte Lotte. »Kenne ich sie? Habe ich sie einmal gesehen?«
    »Ja«, sagte Archimboldi, »aber du warst noch klein und wirst dich nicht erinnern.«
    Archimboldi berührte mit den Fingerspitzen seine Bücher. Es gab sie in allen Ausführungen: Als Hardcover, als Broschur, als Taschenbuch.
    »Es gibt so vieles, an das ich mich nicht mehr erinnere«, sagte Lotte. Gutes, Schlechtes, ganz Schlimmes. Aber nette Menschen vergesse ich nie. Und deine Verlegerin war sehr nett«, sagte Lotte, »obwohl mein Sohn in einem mexikanischen Gefängnis verfault. Wer wird sich um ihn kümmern? Wer wird an ihn denken, wenn ich tot bin?« sagte Lotte. »Mein Sohn hat keine Kinder, hat keine Freunde, hat niemanden«, sagte Lotte. »Sieh nur, es dämmert schon. Willst du einen Tee, einen Kaffee, ein Glas Wasser?«
    Archimboldi setzte sich und streckte die Beine aus. Seine Knochen knackten.
    »Wirst du dich um alles kümmern?«
    »Ein Bier«, sagte er.
    »Bier habe ich nicht da«, sagte Lotte. »Wirst du dich um alles kümmern?«
    Fürst
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