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2666

2666

Titel: 2666
Autoren: Roberto Bolaño
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nicht stimmte. Der Prozess, der wie in einem Traum ablief, dauerte zwanzig Tage, und am Ende wurde Klaus in vier Fällen des Mordes für schuldig gesprochen.
    An diesem Abend brachte die Anwältin sie ins Hotel, und da sie keine Anstalten machte, gleich wieder zu gehen, nahm Lotte an, sie wolle ihr etwas sagen und wisse nicht wie, weshalb sie sie auf ein Glas in die Bar einlud, obwohl sie todmüde war und am liebsten ins Bett gegangen wäre. Als sie dann vor ihren Getränken saßen und durch die Fensterfront vor ihnen die Scheinwerfer der Autos verfolgten, die auf einer breiten, baumbestandenen Avenida vorbeifuhren, begann die Anwältin, die genauso müde zu sein schien wie sie, auf Spanisch zu fluchen, jedenfalls kam es Lotte so vor, und gleich darauf in Tränen auszubrechen. Diese Frau liebt meinen Sohn, dachte Lotte. Bevor sie abreiste, sagte ihr Victoria Santolaya noch, das Urteil weise etliche Formfehler auf und werde wahrscheinlich revidiert. In jedem Fall werde ich Berufung einlegen, versicherte sie. Auf der Rückreise, als sie im Auto durch die Wüste fuhr, dachte Lotte an ihren Sohn, den der Richterspruch nicht im Geringsten berührt hatte, und an die Anwältin, und dachte, dass die beiden auf eine sehr seltsame, aber auch sehr natürliche Weise gut zueinander passten.
    Im Jahr 1998 wurde das Urteil aufgehoben und ein Termin für einen zweiten Prozess festgesetzt. Eines Abends, als sie von Paderborn aus mit Victoria Santolaya telefonierte, fragte sie die Anwältin auf den Kopf zu, ob zwischen ihr und ihrem Sohn mehr sei.
    »Ja, da ist mehr«, sagte die Anwältin.
    »Leiden Sie denn nicht schrecklich?«, fragte Lotte.
    »Nicht mehr als Sie«, sagte Victoria Santolaya.
    »Das verstehe ich nicht«, sagte Lotte, »ich bin seine Mutter, Sie dagegen konnten sich frei entscheiden.«
    »In der Liebe gibt es keine freie Entscheidung«, sagte Victoria Santolaya.
    »Und Klaus erwidert Ihre Gefühle?« fragte Latte.
    »Ich bin die, mit der er schläft«, sagte Victoria Santolaya brüsk.
    Lotte verstand nicht, worauf sie anspielte. Aber dann fiel ihr ein, dass in Mexiko, genau wie in Deutschland, jeder Gefangene das Recht auf einen Besuch seiner Frau oder Freundin hatte. Sie hatte davon in einer Fernsehsendung erfahren. Die Räume, in denen die Gefangenen mit ihren Frauen zusammenkamen, waren trostlos, erinnerte sie sich. Die Frauen gaben sich Mühe, sie ein wenig herzurichten, erreichten mit ihren Blumen und Tüchern aber nur, dass die traurigen, unpersönlichen Zimmer sich in traurige, billige Bordellzimmer verwandelten. Und dabei handelte es sich um gute deutsche Haftanstalten, dachte Lotte, Haftanstalten ohne Überbelegung, sauber und funktional, sie wollte gar nicht daran denken, wie ein Ehegattenbesuch im Gefängnis von Santa Teresa vonstattenging.
    »Ich finde bewundernswert, was Sie für meinen Sohn tun«, sagte Latte.
    »Nicht der Rede wert«, sagte die Anwältin, »was ich von Klaus bekomme, ist unbezahlbar.«
    In der Nacht dachte sie vor dem Einschlafen an Victoria Santolaya und Klaus und stellte sich beide in Deutschland oder in irgendeinem Land Europas vor und sah Victoria Santolaya mit dickem Bauch, in Erwartung eines Kindes von Klaus, und schlief dann ein wie ein Säugling.
    Im Jahr 1998 reiste Lotte zweimal nach Mexiko und war insgesamt fünfundvierzig Tage in Santa Teresa. Der Prozess wurde auf 1999 verschoben. Als sie mit der Maschine aus Los Angeles in Tucson ankam, machte die Autovermietung Probleme und wollte ihr wegen ihres Alters kein Auto vermieten.
    »Ich bin alt, aber ich kann Auto fahren«, sagte Lotte auf Spanisch, »und habe noch nie einen verdammten Unfall gehabt.«
    Nachdem sie den halben Vormittag mit Diskussionen vertan hatte, rief sie ein Taxi und fuhr im Taxi nach Santa Teresa. Der Taxifahrer hieß Steve Hernández und sprach Spanisch, und während sie durch die Wüste fuhren, fragte er sie, was sie nach Mexiko führe.
    »Ich besuche meinen Sohn«, sagte Lotte.
    »Wenn Sie das nächste Mal kommen«, sagte der Taxifahrer, »sagen Sie Ihrem Sohn, er soll Sie in Tucson abholen, denn die Fahrt wird für Sie nicht ganz billig werden.«
    »Wie gern würde ich das tun«, sagte Lotte.
    Im Jahr 1999 fuhr sie wieder nach Mexiko, und diesmal holte die Anwältin sie in Tucson ab. Es war kein gutes Jahr für Lotte. Die Geschäfte in Paderborn liefen nicht gut, und sie dachte ernsthaft daran, die Werkstatt und das ganze Haus einschließlich ihrer Wohnung zu verkaufen. Auch mit ihrer Gesundheit stand
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