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265 - Das letzte Tabu

265 - Das letzte Tabu

Titel: 265 - Das letzte Tabu
Autoren: Manfred Weinland
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spürte, wie er den Mittelgang des Jets entlang jagte. Als hätte ihn das Grauen, das ihn gerade übermannte, wie ein Katapult beschleunigt.
    Er fasste sich wieder, bremste jäh ab. Das im Zeitstrahl typische Zwielicht war allgegenwärtig und malte die Linien der Verzweiflung auf den Gesichtern der Passagiere nach.
    Graulicht überlegte, ob er die Maschine und den Strahl nicht besser verließ. Für diesmal zumindest. Aber genau in diesem Moment streifte sein Blick… sie.
    Und ohne dass er es zunächst bemerkte, war es um ihn geschehen.
    ***
    Sie saß da, als wäre sie kein ursprünglicher Bestandteil dieses »Gemäldes«, in dem alle Konturen wie mit einem fluoreszierenden Tuschestift nachgezogen aussahen, sondern ihm nachträglich beigefügt worden.
    Sie war in ein schlichtes beigefarbenes Kostüm gekleidet, dessen Jackett die Wölbungen ihrer zarten Brüste erkennen ließ. Aber diese Attribute streifte Graulichts Blick nur. Wirklich angezogen wurde er vom Gesicht der jungen, sehr schlanken Frau, die in ihrer Statur, was Größe und Grazie anging, fast an eine Marsianerin heranreichte. Was ihr fehlte, war die für alle Marsbewohner typische, im Laufe der Jahrhunderte zur Normalität gewordene Pigmentierung der Haut, die sich streifenartig auch über die Gesichtszüge legte.
    Ein bizarrer Gedanke bettelte förmlich darum, unterdrückt zu werden, doch Graulicht ließ ihn zu. Er stellte sich vor, wie es wäre, diese reine Leinwand zu bemalen, sodass sie dem marsianischen Ideal nahe käme.
    Er wusste nicht, wie lange er die gespenstisch schöne Frau nur anstarrte. Sie trug ihr Haar glatt bis unter die Ohrläppchen fallend; es war in Stufen geschnitten und sah aus wie gerade erst frisch frisiert. Was ihn aber am meisten wunderte und vielleicht auch seinen Blick erst auf sie gelenkt hatte, war, dass sie völlig entspannt und mit geschlossenen Augen dasaß.
    Konnte es wirklich sein, dass sie schlief? Je länger Graulicht sie anstarrte, desto mehr Details glaubte er erkennen zu können. Irgendwie wurde sie unter seinem Blick wirklicher als die anderen Opfer des Zeitstrahls, der sich ihre seltsam verfälschten Abbilder aufbewahrte, als wäre er ein Sammler, der sich nahm, was immer er bekommen konnte.
    Über die Äonen war diese obskure Sammlung auf eine kaum noch überschaubare Zahl von Einzelobjekten angewachsen. Graulicht hatte bei seinen wenigen Besuchen bislang nur einen Bruchteil dessen geschaut, was dieser Mikrokosmos tatsächlich bereithielt.
    Aber etwas an dem, was er gerade schaute, überlagerte sein Interesse an allem anderen. Er erschrak regelrecht, als ihm bewusst wurde, wie fokussiert auf das Bild dieser einen Person er war.
    Hatten seine Lehrmeister ihn nicht oft und nachhaltig genug davor gewarnt, die Kontrolle über seinen ureigenen und freien Willen zu verlieren? Es sollte Fälle gegeben haben, in denen sich Geistwanderer in den labyrinthischen Weiten des Strahls verirrt und nie mehr nach Hause gefunden hatten. Ihre körperlichen Hüllen waren binnen weniger Tage als geistlose Kokons abgestorben, als hätte ihr Organismus den dauerhaften Verlust der Seele nicht verkraftet…
    Auch wenn Graulicht nicht wusste, was von solchen Geschichten zu halten war, hatte er doch an sich gespürt, dass sie ihren Zweck erfüllten: Mit äußerster Vorsicht und Selbstdisziplin war er bisher in den Strahl eingetaucht.
    Warum also ließ er sich ausgerechnet heute so gehen? Vor ihm saß eine Frau - na und? Sie war für eine Nicht-Marsgeborene unglaublich grazil und groß gewachsen - eine Seltenheit, wenn man die höhere Schwerkraft der Erde bedachte. Aber das erklärte nicht, warum Graulicht in ihrer Nähe die simpelsten Verhaltensmaßregeln in den Wind schlug.
    Mäßige dich. Hör auf, sie so anzustarren!
    Er hatte das Gefühl, gegen unsichtbare Fesseln ankämpfen und sich von ihnen befreien zu müssen, als er sich kurzerhand aus der Flugzeugkabine zurückzog.
    Eine Weile trieb sein Geist in Sichtweite des Giganten. Aber schon bald erlag er wieder der Versuchung, den Jet aufzusuchen. Es bedurfte nur eines Gedankens, und schon durchglitt er abermals die Außenwand des Flugzeugs.
    Aus den Büchern der BRADBURY wusste Graulicht, was die ersten Siedler des Mars unter »Hölle« verstanden hatten. Sie bedeutete für jeden im Detail etwas anderes, doch ein jeder brachte mit ihr die Trostlosigkeit eines abstoßenden, von völliger Hoffnungslosigkeit geprägten Ortes in Verbindung.
    Manchmal empfand Graulicht den Kosmos des Strahls
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