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2489 - Schach dem Chaos

2489 - Schach dem Chaos

Titel: 2489 - Schach dem Chaos
Autoren: Michael Marcus Thurner
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glitt unter das Gebläse, während der zweite Satz des Stücks begann. Sie rieb den Quarzsand mit einer weichen Bürste in den Körperflaum, trug Zykkalor-Duft auf, schärfte Bein- und Handkrallen am Bimsstein. Die heiße Luft dampfte; die hohe Luftfeuchtigkeit war nicht jedermanns Sache. Doch sie brachte das Körperhaar zum Glänzen und ließ sie in besserer Stimmung zurück.
    Als Log-Aer-M'in das Gebläse verließ, schaltete sie die kongeniale Bildaufbereitung der »Liebeleien« zu. Die Bibliothekswand verschwand hinter einem Feld im Takt wogender Gerste. Am Horizont trieben Ballatisten in den Luftströmungen dahin. Sie glänzten und glitzerten wie Seifenblasen im Sonnenschein. Auch ihre Bewegungen waren mit dem Gleichmaß der Musik abgestimmt.
    Ganz in der Nähe des Betrachters streifte der »unerreichbare Liebhaber« durch die Ähren. Man konnte ihn niemals sehen, sondern immer nur für ein paar Augenblicke erahnen. Seine Körperhaltung, einem archaischen Lockmuster entsprechend, regte Log-Aer-M'in an.
    Auch an diesem Tag konnte sie sich der kombinierten Wirkung von Bild und Ton nicht entziehen. Sie fühlte und begriff die innere Einsamkeit, die Verzweiflung, die Trauer. Der Liebhaber würde für immer ein Schatten bleiben. Nicht nur in der Musik, sondern auch in Log-Aer-M'ins realem Leben.
    Sie bürstete den Sand ab, trug einen Körperhaarbalsam auf und glitt in die Unterwäsche. Log-Aer-M'in bedachte die Trainingsgeräte in der Nebenkammer mit einem bedauernden Blick. Weder an diesem Tag noch an den Tagen davor war Zeit dafür gewesen. Sie musste sich mit ein paar Dehnungsübungen zufriedengeben.
    Sie glitt in die Grundposition, schob den Kopf so weit nach unten, bis sie zwischen den gespreizten Beinen hindurch nach hinten auf ihre Liegestatt sehen konnte. Der Narbenschmerz ließ allmählich nach. Und dennoch ... in ihren Jugendjahren hatte es ihr keinerlei Probleme bereitet, den Kopf so weit zwischen die Beine zu schieben, dass sie ihren Hintern kritisch betrachten konnte.
    Log-Aer-M'in richtete sich auf, ließ sich mit ausgestreckten Armen nach hinten fallen, ging in die Waage, schob die Hände immer näher hin zu den Beinen, bis sie ihre Fesseln umfassen konnte. Der Balanceakt fiel ihr leicht, die Atmung weniger. Sie verharrte eine Weile, gab sich der ganz eigenen Melodie des Mittelstücks des zweiten Satzes hin. In ihren Gedanken herrschte Ruhe. Frieden. Ausgeglichenheit. Alle Sorgen waren weit, weit weg.
    Nach den Handstand- und Spreizübungen ließ sie es für den Moment gut sein. Das Crescendo des letzten Satzes kündete den Höhepunkt des Stücks an. Tan-Tan-M'yas Stimme erklang. Anfangs zögerlich, dann immer heftiger und intensiver werdend, intonierte sie die abschließende Litarge. Kataklysmische Klänge, tiefe Bässe, der Einsatz des Trommler-Sextetts und der Kukurica-Orgel brachten Log-Aer-M'ins Blut zum Wallen.
    Sie atmete schneller, immer schneller, ergründete gemeinsam mit der längst verstorbenen Sängerin die Tiefen der »Liebeleien«. Wieder umgaben sie Niedergeschlagenheit, Sehnsüchte und der Kummer, als die besungene Kartanin gezwungen war, loszulassen und die Suche nach dem unerreichbaren Liebhaber aufzugeben.
    Die Bildkomposition dunkelte ab. Die Ballatisten legten sich zur Ruhe, der Wind ließ nach. Der Mann glitt davon, nur noch den Schatten eines Schattens darstellend.
    Tan-Tan-M'yas Fabelstimme erreichte nie zuvor erklommene Höhen, verblieb dort, bis das letzte Trommelgewirbel endete und die Kukurica-Orgel schwieg. Sie presste einen finalen Ton hervor. Ein verzweifeltes Ächzen. Dann war Stille.
    Die Bildübertragung endete, die gespeicherte Tonaufnahme ebenfalls. Plötzlich wirkten Log-Aer-M'ins Räumlichkeiten öde und leer. Auch die Bücher, eines schöner und wertvoller als das andere, konnten ihr keinen Trost schenken.
    Log-Aer-M'in fauchte, machte ihrem Ärger Luft. Sie wollte nicht, dass das Stück endete, nicht so ...
    Hätte sie diesen Bordtag anders beginnen sollen? Mit einem Stück, das mehr Aussicht auf Hoffnung bot?
    Nein. Das abrupte Ende half ihr, sich schnell wieder in der Wirklichkeit zurechtzufinden.
    Log-Aer-M'in blickte auf die Uhr. Es blieb noch Zeit für das Frühstück. Körniges Brot, gebackene Sülze. Dazu ein gedämpfter Salzstein, der die Zähne zum Glänzen brachte, und ein Glas Milch.
    Das Signal läutete ihrem Empfinden nach zu früh. Wie immer. Sie wollte nicht an die Arbeit. Sie hatte sich vorgenommen, jeden Tag zumindest eine Stunde für sich selbst
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