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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Autoren: Residenz
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bald mit Nichtachtung, ja mit Verachtung, da er an dessen Gerede vom Endsieg, von den Wunderwaffen, vom totalen Krieg und vom Einklang des Führers mit der Vorsehung, die Großdeutschland noch immer oder schon wieder günstig gesonnen sei, offenkundig nicht recht glauben will, ohne aber explizit zu widersprechen und damit Insubordination zu begehen. Als Revierinspektor – ein Rang, den für gewöhnlich nur Postenkommandanten bekleiden – ist Winkler zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann nach 1938 auch der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen beigetreten oder zumindest Parteianwärter geworden, um seine berufliche Position nicht zu gefährden, aber besonderen Eifer hat er als Parteigenosse oder -anwärter wohl nie gezeigt, und jetzt, im Jahr 1945, wo alles am Zusammenbrechen ist, schon gar nicht. Seine neuen Untergebenen, 5 Mannschaftsdienstgrade im Posten, empfangen ihn auch nicht gerade mit offenen Armen, da sich der eine oder andere von ihnen selbst Hoffnungen auf den Stellvertreterposten gemacht hat. Revierinspektor Winkler ist sich von Anfang an bewusst, dass ihn die Persenbeuger als Auswärtigen mit Misstrauen und Argwohn betrachten werden. Der neue Stellvertreter des Persenbeuger Postenkommandanten ist eine bestenfalls mittelgroße, unauffällige Erscheinung in stets tadellos gebügelter und ausgebürsteter, grünmelierter Uniform. Er ist ruhig, ja geradezu schweigsam. Er ist ein guter, konzentrierter Zuhörer, ja sein ganzes Wesen könnte man am besten als konzentriert bezeichnen. Das Auffälligste an ihm sind seine graugrünen Augen, denen so leicht nichts entgeht. Unaufgeregt absolviert er seine Antrittsbesuche bei den Persenbeuger Honoratioren, beim Oberbürgermeister, beim Ortsgruppenleiter, beim Pfarrer, beim Oberlehrer und beim Verwalter der Habsburgischen Güter und quittiert das Gebrabbel vom nahen Endsieg und von der endgültigen Abrechnung mit den jüdisch-bolschewistisch verseuchten Elementen, das er dabei immer wieder zu hören bekommt, mit undeutbarem Schweigen, bestenfalls mit unscheinbaren, indifferenten Gesten, die man als Zustimmung deuten kann, aber auch als das Gegenteil davon. Der Mann, so hat man den Eindruck, ist nicht gewillt, sich einschüchtern zu lassen, sondern vor allem darauf konzentriert, diesen Krieg zu überleben. Den Honoratiorentisch in dem Wirtshaus, in dem er logiert, an dem Ortsgruppenleiter Urban, Oberbürgermeister Maier, Postenkommandant Duchkowitsch und andere Abend für Abend zumindest rhetorisch das Reich vor dem Bolschewismus und vor der jüdischen Plutokratie retten, meidet der Revierinspektor. Dafür ist er oft bis spät in die Nacht am Gendarmerieposten zu finden, wo er den gesamten Dienstbetrieb bald völlig in der Hand hat, während sich der Postenkommandant in braunen Träumen und abstrusen Durchhaltefantasien verliert. Revierinspektor Winkler schreibt seiner Frau und seiner Tochter Briefe nach Oberbergern, jede Woche mindestens einen, in denen er vor allem das Persenbeuger Wetter der jeweils vergangenen Woche ausführlich rekapituliert. Seine ganze Liebe und seine Sorge um seine Familie legt er in ausgefeilte, fast schon barocke Schluss- und Grußformeln. Er weiß lange nicht, ob seine Briefe unter den gegenwärtigen Verhältnissen überhaupt ankommen, bis er Ende Februar und Anfang März 2 Karten erhält, auf denen seine Frau ihm kurze Mitteilungen über den Zustand des Oberbergerner Hauses und alltägliche Haushaltsangelegenheiten macht und ihn schön grüßen lässt. Danach hört er nichts mehr von seiner Familie, und es gibt auch keine Möglichkeit, mit ihr zu telefonieren, da in Oberbergern nicht einmal der Pfarrer einen Telefonanschluss hat. Zweimal in der Woche nimmt Revierinspektor Winkler seine Dienstwaffe komplett auseinander, reinigt sie, fettet sie gründlich ein und setzt sie wieder zusammen. Die Geschoßspitzen der ersten beiden Patronen in seinem Magazin feilt er ab, bevor er die Metallstümpfe mit seinem Taschenmesser kreuzweise einkerbt. In seinen einsamen Nächten träumt er immer wieder davon, dass seine Frau in ihrem Oberbergerner Gemüsegarten von einer russischen Granate zerrissen wird, mitten in reich tragenden Stauden mit Tomaten, deren Mark sich mit ihrem Blut vermischt, und wacht schreiend und keuchend auf. Danach spuckt er oft eine Viertelstunde lang gelben Schleim in sein Taschentuch und schläft nur mühsam wieder ein.
    Revierinspektor Franz Winkler begreift, warum sein Vorgesetzter mit der Einrichtung des Lagers nichts zu
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