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2.02 Der fluesternde Riese

2.02 Der fluesternde Riese

Titel: 2.02 Der fluesternde Riese
Autoren: Joachim Masannek
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hinter ihr lagen.
    Immer wieder griff sie zu dem schwarz-grünen Quilt, der Fabis Schottenrock so ähnlich sah, und immer wieder zog sie die Hand von ihm zurück, um einen, nein, zwei und schließlich sogar drei Schritte in Richtung Päckchen und Brief zu gehen. Doch auch hier bremste sie wieder, raufte sich wie Honky Tonk Hannah die Haare, weil sie nicht wusste, was sie anziehen sollte, und ging zögernd und zaudernd zum Spiegel zurück.
    „Ich dachte, du hast dich entschieden!“, stichelte ihre Oma, die plötzlich in der Zimmertür stand. Sie schaute beiläufig auf ihre mit rosa Diamanten besetzte Armbanduhr. „Und das wäre auch gut. Das Spiel muss doch jede Minute beginnen.“
    Vanessa blitzte sie an. Sie wollte etwas sagen. Irgendeine in Schokolade gegossene Giftstachelei.
    Doch ihre Oma kam ihr zuvor:
    „Ich habe mich schon nach einer Schule erkundigt. Einer Schule in Hamm. Und auch ein Haus habe ich dort schon gefunden, in dem wir wohnen könnten.“
    Vanessa erschrak. Doch ihre Oma, die wir alle Oma Schrecklich nannten, schien das nicht zu registrieren.
    „Oder wie hast du dir das vorgestellt, wenn du bei den Biestern spielst? Hamm liegt über 600 Kilometer von München entfernt.“
    „Ja aber …“, würgte Vanessa erschrocken.
    „Und dein Vater ist einverstanden. Er kommt uns am Wochenende immer besuchen.“
    Vanessa drehte sich sprachlos im Kreis.
    „Ich finde das gut. Du bist jetzt fast 14. Da wird es doch höchste Eisenbahn, dass man etwas verändert. Ja, man muss sich verändern, um wachsen zu können. Die Welt wird so groß, wenn man größer wird, und manchmal verlangt das auch, dass man sich trennt.“
    „Ich bin nicht mehr mit Marlon zusammen!“ Vanessa zischte jedes der Worte. „Ich bin’s nicht. Ich bin’s nicht. Da kann er noch so viel singen oder mir zehntausend Briefe schreiben.“
    Sie stand jetzt am Tisch. Sie hielt den Brief in der Hand. Sie hatte ihn doch tatsächlich – trotz aller Schwüre und Flüche – berührt und genommen, und als sie das merkte, als sie bemerkte, wie ihre Großmutter die haarlose, Kajal-gezogene Braue hob, wurde sie wütend.
    „Zehntausend oder zwanzig- oder, von mir aus, noch mehr. Denn ich lese keinen.“ Sie zerriss das Kuvert in zwei, vier, acht Fetzen und wirbelte zu ihrer Oma zurück. „Glaubst du mir das?“, fauchte sie böse und wurde noch böser, als ihre Oma grinste: „Dann bin ich ja froh. Dann hast du das Wichtigste ja schon gelernt.“

    „Ach ja, und das wäre?“, blaffte Vanessa.
    „Dass man Trennungen überlebt.“ Die Großmutter lächelte. „Das Leben geht weiter, wenn jemand stirbt. Das hast du am eigenen Leib erfahren.“ Sie wurde jetzt ernst. Ganz ernst und ganz sanft, und Vanessa, die plötzlich eine Vorahnung hatte, wurde ganz schummerig zumute. „Du lebst doch noch immer, und du lebst doch auch gern. Obwohl deine Mutter gestorben ist.“
    Jetzt schluckte Vanessa, und ihr wurde schlecht: „Was hat meine Mutter mit Marlon zu tun? Der ist doch nicht krank.“
    „Nein“, nickte die Oma. „Aber das meine ich nicht. Ich rede von Trennung. Trennung ist so, als wenn jemand stirbt. Man lässt etwas los. Etwas, das man nicht mehr festhalten kann, so wie Marlon dich nicht mehr halten kann, obwohl er es sich inständig wünscht. Oder man gibt etwas auf, was man nicht mehr haben will. Was einen belastet und erdrückt. So wie dich die Kerle erdrücken. Das tun sie doch, oder? Du erträgst sie nicht mehr.“
    „Aber sie sterben doch nicht“, widersprach ihr Vanessa. „Es muss keiner sterben, nur weil ich gehe.“
    „Aber in dir sterben sie“, beharrte die Oma. „Für dich. In dir drin.“
    Tränen stauten sich in Vanessas Augen.
    „Siehst du, du spürst es, und das ist gut. Du trauerst, Vanessa. Sie bedeuten dir etwas, und weil das so ist, bist du sicherlich fair. Fair zu Marlon und den anderen. Du würdest sie ganz bestimmt niemals verraten.“
    Sie musterte ihre Enkeltochter aufmerksam.
    „Was meinst du damit?“, fragte Vanessa und fing wieder an, auf ihrer Unterlippe zu kauen. „Die Spielerverträge waren doch Kinderkram. Da waren wir 10 und 11 Jahre alt. Da weiß man doch gar nicht, was so etwas wie,Für immer und ewig’ bedeutet.“
    Sie schniefte und lachte dann sogar ein bisschen, als sie ihre Oma lächeln sah.
    „Da hast du recht. Da ist man noch jung. Da weiß man nicht, wie lange das dauert: ‚Für immer und ewig’.“ Sie sang die vier Worte wie ein Lied. „‚Für immer und ewig’, auch wenn es noch
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