2012 - Schatten der Verdammnis
einer bleistiftdünnen Taschenlampe untersuchen kann, um sich zu vergewissern, dass er das Medikament geschluckt hat.
»Danke, Mr. Gabriel. Der Wärter wird Sie in ein paar Minuten in Ihr Zimmer zurückbringen.«
Michael bleibt auf der Liege sitzen, bis die Schwester die Tür hinter sich geschlossen hat. Dann steht er auf, tritt zur hinteren Wand und wendet dem Fenster den Rücken zu. Unauffällig fischt er mit dem Zeigefinger der linken Hand die weiße Tablette aus dem leeren Becher und lässt sie in seine Handfläche gleiten. Dann hockt er sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und wirft den zerknüllten Becher aufs Bett, während er die Tablette in seinem Schuh verschwinden lässt.
Das Zyprexa wird er später ordentlich in der Toilette entsorgen, wenn er wieder in seiner Zelle ist.
2
8. September 2012 Weißes Haus
A ußenminister Pierre Robert Borgia mustert im Spiegel über dem Waschbecken sein Gesicht. Er rückt die Klappe über der rechten Augenhöhle zurecht, dann streicht er die kurzen grauen Haarbüschel glatt, die ihm an beiden Seiten seines sonst kahlen Kopfes geblieben sind. Der schwarze Anzug und die passende Krawatte sind makellos wie immer.
Borgia verlässt die Toilette für die oberste Regierungsmannschaft und wendet sich nach rechts. Mit einem Kopfnicken begrüßt er mehrere Mitarbeiter, während er durch den Flur zum Oval Office geht.
Patsy Goodman blickt von ihrem Computer auf. »Gehen Sie nur rein. Er erwartet Sie.«
Borgia nickt und tritt ein.
Mark Mallers hageres, bleiches Gesicht lässt die Spuren erkennen, die die fast vier Jahre seiner Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten hinterlassen haben. Das pechschwarze Haar ist an den Schläfen ergraut, um die stechend blauen Augen haben sich zusätzliche Fältchen gebildet. Doch obwohl der zweiundfünfzig Jahre
alte Politiker wesentlich hagerer geworden ist, hält er den Körper noch immer straff aufrecht.
Borgia sagt ihm, er habe schon wieder Gewicht verloren.
Maller zieht eine Grimasse. »Das ist die Viktor-Grosny-Stressdiät. Haben Sie schon den letzten Bericht der CIA gelesen?«
»Noch nicht. Was hat Russlands neuester Präsident nun wieder angestellt?«
»Er hat die militärischen Führer von China, Nordkorea, Iran und Indien zu einem Gipfeltreffen aufgefordert.«
»Zu welchem Zweck?«
»Um eine gemeinsame atomare Abschreckung zu entwickeln, als Reaktion auf unsere letzten Tests mit der Raketenabwehr.«
»Grosny spielt sich nur auf. Er kocht noch immer, weil der Internationale Währungsfonds ihm seinen Kredit über zwanzig Milliarden Dollar gestrichen hat.«
»Was immer sein Motiv ist, er schafft es, in Asien eine nukleare Paranoia zu entfachen.«
»Mark, heute Nachmittag trifft sich der Sicherheitsrat. Sie haben mich also bestimmt nicht nur herbestellt, um über die Außenpolitik zu diskutieren.«
Maller nickt und leert seine dritte Tasse Kaffee. »Jeb hat sich entschlossen, als Vizepräsident zurückzutreten. Stellen Sie bitte keine Fragen. Nennen wir es persönliche Gründe.«
Borgias Herz setzt einen Schlag aus. »Du lieber Himmel, in weniger als zwei Monaten sind Wahlen...«
»Ich hatte bereits eine inoffizielle Besprechung mit den maßgeblichen Stellen. Zwei Personen kommen in Frage: Sie und Ennis Chaney.«
Meine Güte... »Haben Sie schon mit Chaney gesprochen?«
»Nein. Ich dachte, ich schulde es Ihnen, Sie zuerst zu informieren.«
Mit nervösem Lächeln zuckt Borgia die Schultern. »Senator Chaney ist ein guter Mann, aber was die Außenpolitik betrifft, kann er mir sicher nicht das Wasser reichen. Zudem hat meine Familie immer noch viel Einfluss...«
»Nicht so viel, wie Sie meinen. Außerdem wird aus den Umfragen deutlich, dass die meisten Amerikaner sich nicht besonders für die chinesische Aufrüstungspolitik interessieren. Sie halten den Raketenabwehrschild für das perfekte Ende der atomaren Bedrohung.
Das Wahlergebnis wird in jedem Fall knapp sein. Und denken Sie daran, was Gore mit seiner Entscheidung für Lieberman bewirkt hat. Mit Chaney würden wir nicht nur in Pennsylvania, sondern auch in den Südstaaten den Trumpf bekommen, den wir dringend brauchen. Jetzt regen Sie sich mal nicht auf, Pierre. In den nächsten einbis anderthalb Monaten wird keine Entscheidung fallen.«
»Das ist clever. Dann hat die Presse weniger Zeit, uns auseinanderzunehmen.«
»Gibt es bei Ihnen eigentlich irgendwelche Leichen im Keller, über die wir uns Sorgen machen müssten?«
»Ich bin sicher, Ihre Leute
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