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2012 – Das Ende aller Zeiten

2012 – Das Ende aller Zeiten

Titel: 2012 – Das Ende aller Zeiten
Autoren: Brian D’Amato
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ein Häufchen aus roten tz’ite- Bohnen, den harten Samenkörnern eines Korallenbaums, auf und legte ihre Quarzsteine aus, die ich mir so gern vors Auge hielt, um die tanzenden Lichter darin zu betrachten. Weshalb sie tat, was dann als Nächstes kam, habe ich nie begriffen: Sie zog sich einen feuchten schwarzen Strich übers Gesicht, der von der linken Ohrmuschel unterdem linken Auge hinweg über die Oberlippe und die rechte Wange hinunter zum rechten Kieferwinkel führte. Danach nahmen wir beide eine Handvoll Samenkörner vom Haufen und verstreuten sie an den Rändern des Tuches, östlich und westlich der Vertiefungen, während wir beide um die Hilfe des Beschützers des Tages baten. Dann klopfte meine Mutter fünfmal auf den Boden und sagte:
    »Ixpaayen b’aje laj …«
    Das bedeutet:
    »Nun borge ich den Atem
    Der Sonne von heute,
    Nun borge ich den Atem
    Der von morgen.
    Nun treibe ich Wurzeln
    Nun finde ich den Mittelpunkt,
    Verstreue schwarze Samen
    Und verstreue gelbe Samen,
    Tue weiße Schädel hinzu
    Und tue rote Schädel hinzu,
    Zähle die blaugrünen Sonnen,
    Zähle die braungrauen Sonnen.«
    Im Ch’olan ist das Wort für »Schädel« auch ein Wort für »Maiskorn«. Als Nächstes zählten wir die Körner in Vierergruppen in die Löcher und legten die Bohnen so darüber, dass sie das Datum des jeweiligen Tages bezeichneten. Dann holte Mutter einen daumennagelgroßen Karneolkristall hervor. Das war der Läufer.
    Wie die Figuren beim Mensch-ärgere-dich-nicht oder seiner Urform, dem Pachisi, bewegen die Läufer sich nach zufällig ermittelten Vorgaben über das Spielbrett. Statt Würfel benutzen wir Maiskörner, die auf einer Seite einen schwarzen Punkt tragen. Man wirft sie hochund zählt, wie viele mit dem Punkt nach oben zu liegen kommen. Doch anders als beim Würfelspiel hängt die Anzahl der Maiskörner, die man wirft, davon ab, wo im Spiel man gerade ist. Es können unterschiedliche Zählregeln angewendet werden; wenn die letzte Gruppe drei Spielmarken umfasst, teilt man sie manchmal in zwei und eins auf, zählt es aber als eine gerade und eine ungerade Zahl.
    Auch in anderer Hinsicht ist das Spiel kompliziert. Es umfasst eine Reihe vorgegebener, kurzer Fragen und Antworten, von denen jede mit einem der zweihundertsechzig Namen-Zahl-Kombinationen für die Tage im rituellen Kalender beginnt. Jeder dieser Namen überschneidet sich mit den dreihundertsechzig anderen Namen für die Sonnentage. Bestimmte Kombinationen haben eigene dazugehörige Sprichwörter und eigene Bedeutungsschattierungen, die von anderen Aspekten ihrer Position abhängen. Auf diese Weise bilden sich bei dem Spiel – wie beim I Ging oder dem afrikanischen Ifa – kurze Redewendungen, die man als Sätze lesen kann. Und weil es so viele verschiedene Kombinationen gibt, kommt es einem so vor, als würde man mit einem unsichtbaren Gesprächspartner reden. Normalerweise sagte Mutter, dass Santa Teresa – so etwas wie eine Göttin des Spiels – für uns dolmetsche. Kam jedoch etwas Schlechtes heraus, behauptete sie, dass San Simón zu uns redete. Er war ein bärtiger Mann, der am Wegkreuz saß, dem Zentrum des Spieles, und den einige Leute noch immer Maximón nannten und der sozusagen die Maya-Version Gottes ist, entstanden als Trotzreaktion gegen die katholische Kirche.
    Wie auch immer, das Spiel gleicht einer Kombination aus einer Karte, einem Abakus und einem ewigen Kalender. Die Bewegungen des Karneols, des Läufers also, bringen Varianten hervor, die davon abhängen, wie weit voraus man lesen kann und wie sehr man sich auf seine Intuition verlassen möchte. Manchmal sieht von zwei vernünftigen Zügen der eine einfach besser aus. Es gibt eine besondere Methode, die Intuition gleichsam herbeizuzwingen. Meine Mutter lehrte mich, still zu sitzen und auf tzam lic zu warten, was wörtlich übersetzt »Blutblitz« heißt – ein Zucken oder Zittern unter der Haut, eine Art winziger Muskelkrampf. Jedenfalls verrieten seine Intensität, die Stelle am Körper, an der er auftrat, und die Richtung, in die erging, etwas über den fraglichen Zug. Zuckte es zum Beispiel innen am linken Oberschenkel, wo der Tabakfleck war, so bedeutete es, dass ein männlicher Verwandter von Nordosten kam, um einen zu besuchen; hatte man das gleiche Gefühl an der Außenseite des Schenkels, war der Besucher eine Frau. Gewöhnlich versuchte meine Mutter nur einfache Dinge herauszufinden – ich möchte nicht von »prophezeien« reden –, die meist die
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