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2011 - komplett

2011 - komplett

Titel: 2011 - komplett
Autoren: 3 Romane
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ein Loblied auf ihn angestimmt – damit sie es hörte. Bei jeder Geschichte aus Stephens Jugend war Cousin Ralphs Rolle als sein aufrechter, treuer Freund über jedes normale Maß betont worden. Claire hatte gespürt, dass nicht nur Familienstolz hinter diesen glühenden Berichten steckte, doch wie hätte sie sie wirklich ernst nehmen sollen?
    Cousin Ralph hatte sich auf der anderen Seite der Welt befunden!
    Jetzt erkannte sie ihren Fehler. Aus lauter Rücksicht auf die Mayhews hatte sie ihren Plan, sie zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen, viel zu lange hinausgeschoben. Sie hatte ihnen nicht erzählt, wie groß ihre Sehnsucht danach war, zu reisen und die Wunder der Welt zu sehen, von denen sie so oft gelesen hatte. Um sie zu schonen, hatte sie ihre unzumutbaren Erwartungen unbewusst genährt.
    Claire verfügte über ein bescheidenes, aber ausreichendes Einkommen aus dem Vermögen ihrer Eltern, und sie war in einem Alter, das ihr erlaubte, unabhängig zu leben. Unverzüglich und bevor sich die Situation zuspitzte, musste sie den Mayhews klarmachen, dass sie ihre eigenen Pläne hatte.
    Doch schon auf halbem Weg die Treppe hinunter erinnerte sie sich an den Kummer in Tante Hortenses Augen, die stoische Art, mit der Onkel Abner seinen Schmerz zu verbergen suchte, und den herzerweichenden Anblick von Cousine Tillie, wenn ihre Lippen vor Kummer bebten. Claire hielt mitten in der Bewegung inne. Heute war Heiligabend! Die alten Herrschaften gaben sich so viel Mühe, es zu einem denkwürdigen Fest zu machen, und nicht nur Cousin Ralph zuliebe. Auch sie selbst brauchten dringend wieder ein schönes Weihnachtsfest.
    Claire zauderte, gab schließlich ihrem Gefühl nach und verschob die schwierige Aufgabe auf später. Schließlich würden die Lieben schon bald selbst erkennen, wie wenig sie und ihr todlangweiliger Cousin Ralph zusammenpassten.
    Sie wollte weitergehen, blieb aber wie angewurzelt stehen.
    Onkel Abner und Cousin Halbert waren gerade dabei, einen großen, mit Bändern geschmückten Mistelzweig an den Leuchter in der Eingangshalle zu hängen. Sie entdeckten sie auf der Treppe und lächelten ihr strahlend zu. Doch Claire erwiderte ihr Lächeln nicht, sondern rauschte verärgert an ihnen vorbei und zum Salon, wo sie über dem Eingang einen weiteren Mistelzweig entdeckte ... ebenso über den Sofas und noch einen über der Tür, die zum Speisezimmer führte. Claire sah sich entsetzt um. Das ganze Haus war voll von verflixten Mistelzweigen!
    Tante Hortense fiel offenbar auf, dass Claire den Mistelzweig im hinteren Teil der Eingangshalle anstarrte, denn sie zwinkerte ihr auf eine Weise zu, die nur doppeldeutig genannt werden konnte.
    Ein Stöhnen unterdrückend, straffte Claire die Schultern. Wenn sie glaubten, dass sie mit dem vermaledeiten Grünzeug etwas erreichen würden, irrten sie sich gründlich.
    Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg. Cousin Ralph sollte sie genauso unpassend und unsympathisch finden wie sie ihn. Dafür wollte sie schon sorgen.
    An diesem Nachmittag verschwand das Tageslicht hinter dunklen Wolken. Es begann wieder zu regnen, und die Diener, die die Lampen an der Eingangstür entzündeten, warnten davor, dass die Straßen und Gehwege und selbst die Stufen zum Haus vereist waren. Die Mayhews sahen einander betroffen an, fuhren aber fort, den Baum zu schmücken und von lange zurückliegenden Weihnachtsfeiern zu schwärmen. Cousine Tillie hämmerte inzwischen hartnäckig auf die Tasten des Spinetts ein, entschlossen, ihm ein oder zwei Weihnachtslieder zu entringen. Sie alle sprachen begeistert davon, dass man gemeinsam Lieder singen, Plumpudding essen und sogar aus Dickens’ Weihnachtsgeschichte vorlesen würde ... sobald Cousin Ralph angekommen war.
    Gerade als das Personal Tee und leckeres Gebäck hereinbrachte, klopfte jemand ungestüm an die Haustür. Es wurde geöffnet, und gleich darauf erfüllten Männerstimmen die Eingangshalle. Onkel Abner und Cousin Halbert beeilten sich, nach dem Rechten zu sehen. Die Worte „Unfall“ und „vereiste Brücke“ veranlasste die Damen, unversehens ihre Tassen abzustellen und in die Halle zu laufen.
    Eine gebeugte, leicht wankende, in zerschlissene Decken gewickelte Gestalt wurde von mehreren ärmlich gekleideten Männern gestützt.
    „Wir kriegten mit, wie er direkt von der Brücke in den Fluss plumpste. Kann von Glück sagen, dass es noch hell war“, berichtete einer der Retter.

    „Er hat einen ordentlichen Schlag auf den Kopf gekriegt“,
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