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20 - Im Reiche des silbernen Löwen I

20 - Im Reiche des silbernen Löwen I

Titel: 20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
Autoren: Karl May
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gewesen war. Es wäre ein großer Fehler von mir gewesen, ihn in dieser Beziehung zu schonen. Steht der Arzt vor einem Menschen, welcher seine Gesundheit durch ein unordentliches Leben ruiniert hat, so muß er, wenn er ihn heilen will, ihm mit voller Aufrichtigkeit sagen, welchen Ursachen die Krankheiten zuzuschreiben sind. Und die Verpflichtungen des Seelenarztes sind nicht weniger hoch als diejenigen eines Mediziners, welcher die Aufgabe hat, nur die körperlichen Gebrechen zu behandeln. Der Bimbaschi mußte niedergedrückt werden, um sich desto höher aufrichten zu können. Um erkennen zu können, wie ungerecht er, der Wurm, gegen den Allvater der Welt gewesen war, mußte er einsehen, daß ihm dieser, anstatt ihn durch seine Gerechtigkeit zu vernichten, nur Gnade um Gnade gegeben hatte. Schienen meine Worte hart gewesen zu sein, so hatte ich doch nicht danach fragen dürfen, ob sie mir übelgenommen werden könnten, denn wenn sie eine solche Aufnahme fanden, dann war dem Bimbaschi auf geistlichem Gebiet überhaupt nicht mehr zu helfen. Ich war aber der guten Zuversicht, daß sie die gewünschte Aufnahme finden und die beabsichtigte Wirkung haben würden.
    Was ich gedacht hatte, das geschah. Er gestand mir nach einer längeren Pause:
    „Effendi, hätte ein anderer so zu mir gesprochen wie du, so hätte er gewärtig sein müssen, hier vom Dach hinabgestürzt zu werden, denn ich bin zwar alt geworden, und der Onbaschi scheint die Bequemlichkeit zu lieben; aber es scheint auch nur so, denn in Wirklichkeit können wir bei Beleidigungen noch sehr schnell bei der Hand sein. Von dir jedoch nehme ich diese Worte ruhig hin, denn ich weiß, du meinst es gut mit mir, und wenn ich auch noch nicht mit vollster Bestimmtheit erkenne, daß deine Vorwürfe die Wahrheit enthalten, so finde ich doch auch keine Worte, mit denen ich sie widerlegen könnte, und es taucht in mir eine Ahnung auf, daß es gar nicht lange dauern werde, bis ich einsehe, daß du tiefer als ich selbst in mich hinabgeblickt hast. Ich komme mir vor wie ein Patient, welcher dem Arzt wehrlos in die Hand gegeben ist. Ich möchte mich gegen dich sträuben und fühle doch, daß das, was mir weh tut, wie eine Wohltat wirken wird, und daß ich die Hand, welche mir heut Schmerzen bereitet, vielleicht einst noch segnen werde. Ich bin überhaupt so weich, so sonderbar gestimmt, wie ich es noch nie in meinem Leben war. Ich gleiche einer Pflanze, welche einen schweren Regen auf sich fallen lassen muß, der ihr wohl die Blätter, oder wenigstens einige derselben, von den Zweigen schlägt, aber dabei ihren dürstenden Wurzeln Nahrung gibt, daß sie neue, schönere und grünere und vielleicht gar auch Blüten treiben und Früchte bringen kann. Es würden das“ – fügte er nachdenklich hinzu – „am Ende wohl die ersten guten und nützlichen Früchte meines Lebens sein, auf welche ich zeigen könnte, wenn ich dereinst gefragt werde, was ich mit meinem Dasein begonnen und wie ich die Zeit desselben angewendet habe.“
    Tief gerührt von diesem demütigen, wenn auch fast unbeabsichtigten Geständnisse antwortete ich ihm:
    „Du sprichst da von der Rechenschaft, welche wir dereinst alle von unserm Tun und Lassen abzulegen haben. Oh, wenn ich könnte, ich würde gern, sehr gern für jeden einzelnen Menschen den Tod erleiden, wenn er dadurch zu der Einsicht käme, daß jedes gesprochene und unter Umständen auch jedes nicht gesprochene Wort dort vor dem Richter mit Zentnerschwere in die Waagschale fallen wird. Und wenn dies mit den Worten geschieht, mit denen wir hier wie mit leichten, schnell zerrinnenden Schneeflocken um uns werfen, von welcher Schwere müssen da erst die Taten und Unterlassungen sein, wenn sie auf ihren Wert und ihre Wirkung hin gewogen werden! Ich sage dir: Wenn wir Menschen alle uns dieser furchtbaren Verantwortlichkeit bewußt wären und uns mit Ernst bestrebten, sie in unserem Verhalten keinen Augenblick außer acht zu lassen, so würde zwar nicht die Sünde ganz verschwinden und die Erde ganz zum Himmel werden, aber der Ozean der Schmerzenstränen, dessen Wasser heut noch immer höher und höher steigen, würde vertrocknen, es gäbe weder Haß noch Rache, weder Kampf noch Streit, weder Überhebung noch Neid oder Unzufriedenheit, sondern die Liebe, die vom Himmel herniederstrahlende, unendliche Liebe würde ihre Schwingen breiten von einem Pol bis zum andern, vom Aufgang bis zum Niedergang über unsere ganze Erdenwelt und über ein Gott
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