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20 - Im Reiche des silbernen Löwen I

20 - Im Reiche des silbernen Löwen I

Titel: 20 - Im Reiche des silbernen Löwen I
Autoren: Karl May
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war mit Sicherheit anzunehmen, daß sie wieder grad hier beginnen werde. Hat nun der Vater deines Weibes Damaskus aus Besorgnis, daß sich das Blutbad wiederholen werde, verlassen, so wird er doch nicht grad dahin gezogen sein, wo das neue Unheil am ehesten zu erwarten war.“
    „Effendi, ich bemerke etwas wie Allwissenheit an dir!“
    „Übertreibe nicht! Nur einer ist allwissend, und den kennst auch du, obgleich du nicht an ihn glaubst. Ich ziehe nur den einfachen, gesunden Menschenverstand zu Rate und hole aus den klar daliegenden Tatsachen ebenso einfach meine Schlüsse. Das kann ein jeder tun, der seine Gedanken nicht ohne Aufsicht Spazierengehen läßt.“
    „Aber sag, wohin er sich gewendet haben soll, wenn er nicht nach Beirut gegangen ist?“
    „Kannst du das nicht raten?“
    „Nein.“
    „O Bimbaschi, wie muß ich mich da über dich wundern!“
    „Daj ko katu! Da gibt's gar nichts zu wundern! Du magst es zugeben oder nicht, zum Erraten solcher Dinge gehört doch ein kleines Stückchen Allwissenheit, wenn auch nur ein winziges, ganz winziges Teilchen davon. Berechnen kann jeder etwas, denn er hat die Zahlen oder Ziffern dazu; was aber hat er, wenn er raten soll, nur raten?“
    „So wollen wir es nicht raten, sondern berechnen nennen. Wir haben hier ja auch Ziffern oder Zahlen, wenn diese auch nicht in Einheiten, Mehrheiten oder Nullen, sondern in Tatsachen bestehen.“
    „Du wirst gelehrt, Effendi. Das verstehe ich nicht.“
    „Du wirst es sofort begreifen, wenn ich dir ein Beispiel gebe. Du fühlst dich hier unglücklich und möchtest gern fort. Wenn du das könntest und nichts, aber auch gar nichts dich hinderte, deine Schritte dorthin zu lenken, wohin du gehen möchtest, welchen Ort, welche Stadt, welche Gegend oder welches Land würdest du da wählen?“
    „Welch eine Frage! Die Antwort hierauf ergibt sich doch wohl ganz von selbst. Ich würde nach dem Leh memleketi (Polen) gehen, weil ich ein geborener Leh Lehli (Pole) bin. Darüber kann es doch gar keinen Zweifel geben!“
    „Keinen Zweifel?“ fragte ich lächelnd. „Es kann ihn freilich geben, denn du hast ganz denselben Zweifel soeben noch in Beziehung deines Schwiegervaters gehegt.“
    „Ich?“ fragte er erstaunt.
    „Ja.“
    „Wieso?“
    „Du befandest dich im Zweifel darüber, nach welcher Gegend oder welchem Land er sich gewendet hat.“
    „Maschallah! Ja, das ist wirklich ein Wunder! Effendi, wie du mich zu fangen verstehst!“
    „Nun, was sagst du jetzt?“
    „Er ist nach Persien gegangen; ja, er konnte nur nach Persien gehen, weil er ein geborener Perser ist. Das Unglück, welches er in der Fremde, im Ausland erlebte, muß ihn dahin getrieben haben, wohin es das Herz des Menschen bis an das Ende seines Lebens immer und immer wieder zieht, nämlich nach seinem Vaterland. Ist auch dir dieser Zug nach der Heimat bekannt?“
    „Jetzt möchte ich ausrufen wie vorhin du: Welch eine Frage! Ich war es doch wohl, der dich auf Polen aufmerksam machte, damit du Persien raten solltest. Kann mir da die nie endende Anhänglichkeit des Menschen an die Stätte, wo seine Eltern gewohnt haben, unbekannt sein?“
    „Nein, meine Frage war ganz unnötig. Also nach Persien! Und ich wohne schon so lange Zeit und so nahe an der Grenze dieses Landes, ohne auf den Gedanken gekommen zu sein, den du mir jetzt eingegeben hast. Wie hätte ich forschen können, zwar nicht selbst, aber durch andere Leute, denn ich durfte nicht von hier weg! Vielleicht hätte ich die gefunden, welche ich für verloren hielt. O Effendi, was habe ich versäumt! Ich bin ganz, ganz untröstlich darüber!“
    „Beruhige dich!“
    „Beruhigen? Das kannst nur du sagen, der du nicht weißt, was es heißt, alles verloren und nichts wiedergefunden zu haben, weil man nicht verstanden hat, an der richtigen Stelle zu suchen!“
    „Beruhige dich! Wie es scheint, haben wir jetzt unsere Standpunkte vertauscht. Du hast den meinigen eingenommen und mir den deinigen überlassen.“
    „Wieso?“
    „Vorhin wolltest du von keiner Hoffnung etwas wissen, und ich versuchte, dir den Strahl einer solchen in das Herz fließen zu lassen. Jetzt scheint es keine Trauer, sondern bloß noch Hoffnung in dir zu geben, und ich muß dich nun wieder zu deinen früheren Zweifeln führen.“
    „Tu das nicht, Effendi, tu das nicht; ich bitte dich! Du ahnst ja gar nicht, wie glücklich du mich damit gemacht hast, daß du das Blut der Meinen, welches ich für vergossen hielt, aus meinem Gedächtnisse
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