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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2
Autoren: Haruki Murakami
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entlangspazierte. Sie schienen sich ihr Urteil vorzubehalten. Auch wenn der Verkehr stand, kam es doch nicht alle Tage vor, dass jemand zu Fuß die Stadtautobahn entlangmarschierte. Man brauchte eine gewisse Zeit, um dies als realen Anblick wahrzunehmen und zu akzeptieren. Vor allem, wenn es sich bei der Person um eine junge Frau in Minirock und Stöckelschuhen handelte.
    Das Kinn eingezogen, den Blick geradeaus und den Rücken gestrafft, ging Aomame mit festem Schritt vorwärts, während sie die Blicke auf ihrer Haut spürte. Ihre kastanienbraunen Schuhe von Charles Jourdan klackten trocken über den Asphalt, und eine Brise ließ den Saum ihres Mantels flattern. Der junge April wurde von einem noch kühlen und etwas stürmischen Wind begleitet. Über ihrem leichten grünen Wollkostüm von Junko Shimada trug sie einen beigefarbenen Frühjahrsmantel. Ihre lederne Umhängetasche war schwarz, ihr schulterlanges Haar gut geschnitten und gepflegt. Accessoires oder Schmuck trug sie nicht. Sie war 1,68 Meter groß, hatte kein Gramm Fett zu viel und war sehr durchtrainiert, aber das konnte man unter dem Mantel nicht erkennen.
    Wenn man ihr schmales Gesicht von vorn betrachtete, fiel auf, dass ihre Ohren sich etwas voneinander unterschieden. Das linke Ohr war größer als das rechte und unregelmäßig geformt. Doch das merkte anfangs niemand, da sie ihre Ohren meist unter den Haaren verbarg. Ihre Lippen waren zu einem geraden Strich geschlossen und wiesen auf einen wenig anpassungsfähigen Charakter hin. Die schmale kleine Nase und die etwas vorstehenden Wangenknochen, die breite Stirn und auch die langen geraden Augenbrauen sprachen ebenfalls für diese Veranlagung. Insgesamt jedoch hatte Aomame ein regelmäßiges ovales Gesicht. So etwas ist zwar Geschmackssache, aber man durfte sie wohl als eine schöne Frau bezeichnen. Ein Minus war die extreme Härte in ihrem Ausdruck. Über die fest aufeinandergepressten Lippen kam nie ein Lächeln, wenn es nicht unbedingt nötig war. Ihre Augen waren wachsam und kühl, wie die eines vortrefflichen Deckmatrosen auf Wache. Aus diesem Grund machte ihr Gesicht nie einen lebhaften Eindruck auf andere. Die Aufmerksamkeit und Bewunderung, die eine Person auf sich zieht, hat in den meisten Fällen eher mit der Natürlichkeit und Anmut ihrer Mimik zu tun als mit positiven oder negativen Aspekten der unbewegten Gesichtszüge.
    Die meisten Menschen vermochten Aomames Gesicht nicht richtig zu erfassen. Kaum hatte man den Blick abgewandt, konnte man schon nicht mehr beschreiben, wie sie aussah. Obwohl sie ein ausgesprochen individuelles Gesicht hatte, blieben seine charakteristischen Merkmale aus irgendeinem Grund nicht im Gedächtnis haften. In dieser Hinsicht glich sie einem Insekt mit der ausgeprägten Fähigkeit zur Mimese. Ihre Farbe und Form zu verändern, sich dem Hintergrund entsprechend zu wandeln, möglichst wenig aufzufallen, nicht so leicht wiedererkannt zu werden – genau danach trachtete Aomame. Schon seit frühester Kindheit war das ihr Schutzmechanismus.
    Doch wenn irgendetwas Aomame veranlasste, ihr Gesicht zu verziehen, fand eine dramatische Veränderung in ihren kühlen Zügen statt. Ihre Gesichtsmuskeln verzerrten sich unkontrolliert in alle Richtungen. Die Unregelmäßigkeiten zwischen linker und rechter Seite traten bis zum Äußersten hervor, überall erschienen tiefe Falten, die Augen versanken plötzlich in den Höhlen, Nase und Mund waren grimmig entstellt, sie verzerrte ihre Kiefer, die aufgeworfenen Lippen entblößten große weiße Zähne. Innerhalb eines Augenblicks konnte sie sich in einen völlig anderen Menschen verwandeln, als wäre eine Schnur durchtrennt worden und eine Maske von ihr abgefallen. Wer Zeuge dieser entsetzlichen Verwandlung wurde, erschrak bis ins Mark. Es war ein tödlicher Sprung aus völliger Normalität in einen schwindelerregenden Abgrund. So hütete Aomame sich auch, diese Fratze Unbekannten zu zeigen, und beschränkte sich darauf, das Gesicht zu verzerren, wenn sie allein war oder wenn sie Männer einschüchtern wollte, die ihr dumm kamen.
    Sobald Aomame den Pannenstreifen erreicht hatte, blieb sie stehen und sah sich nach der Treppe um. Sie entdeckte sie sofort. Wie der Taxifahrer gesagt hatte, war der Zutritt von einem wenig mehr als hüfthohen Eisengitter umgeben, dessen Tür verschlossen war. Es war etwas lästig, in einem Minirock darüberzusteigen, aber wenn man nichts auf die Blicke der Leute gab, bereitete es einem keine besonderen
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