Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Trommelfell in eine leichte Schwingung. Denn es war ihr Name, den er rief.
    Aomame hörte ihn an ihrem weit entfernten Ort. Tengo, dachte sie seinen Namen. Dann sprach sie ihn laut aus. Doch die Lippen des Mädchens in der Puppe aus Luft blieben unbewegt. Auch Tengos Ohren erreichte er nicht.
    Er betrachtete unentwegt das Gesicht des Mädchens, das mechanisch und flach atmete, wie ein Mensch, dem man die Seele geraubt hatte. Es wirkte sehr friedlich. Keine Spur von Trauer, Schmerz oder Furcht war darin zu erkennen. Ganz leicht bewegten sich die kleinen schmalen Lippen, als wollten sie ein bestimmtes Wort formen. Auch ihre Lider flatterten, schienen sich öffnen zu wollen. Tengo betete von ganzem Herzen, dass es so sein möge. Er kannte kein richtiges Gebet, aber sein Inneres entsandte ein formloses Flehen in den Raum. Doch es sah nicht so aus, als würde das Mädchen aus seinem Schlaf erwachen.
    Aomame, rief Tengo noch einmal. Er hatte ihr so viel zu sagen. Er musste ihr seine Gefühle mitteilen. All die Jahre seines Lebens hatte er sie bewahrt. Doch nun konnte er wieder nur ihren Namen rufen.
    Aomame, rief er wieder.
    Entschlossen streckte er die Arme aus und berührte die Hände des Mädchens in der Puppe. Legte seine großen Erwachsenenhände behutsam darauf. Eine dieser kleinen Hände hatte damals die Hand des zehnjährigen Tengo gedrückt. Sie einfach ergriffen und ihm damit so viel Kraft gegeben. Die Hände des Mädchens dort im schwachen Schein der Puppe besaßen unverkennbar die Wärme des Lebens. Aomame war gekommen, um ihm ihre Wärme zu übermitteln. Davon war Tengo überzeugt. Darin lag die Bedeutung des Päckchens, das sie ihm vor zwanzig Jahren in jenem Klassenzimmer übergeben hatte. Endlich konnte er es öffnen und hineinsehen.
    Aomame, sagte Tengo. Ich habe dich gefunden .
    Auch nachdem das Leuchten der Puppe allmählich schwächer geworden und schließlich, wie von der Dunkelheit aufgesogen, zusammen mit der mädchenhaften Gestalt Aomames ganz verschwunden war und Tengo nicht mehr genau wusste, ob all das wirklich stattgefunden hatte, spürte er an seinen Fingern noch immer die vertraute Wärme der kleinen Hände.
    Dieses Gefühl wird mich in alle Ewigkeit nicht verlassen, dachte er, als er wieder im Expresszug in Richtung Tokio saß. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte Tengo mit dem Gefühl der Berührung gelebt, das die Hand dieses Mädchens bei ihm hinterlassen hatte. Von nun an würde er mit dieser neuen Wärme leben.
    In einer der großen Kurven der gebirgigen Küste konnte er die beiden Monde nebeneinander am Himmel sehen. Den großen gelben und den kleinen grünen Mond. Ihre Umrisse waren klar, aber die Entfernung war nicht zu schätzen. Die kleinen Wellen reflektierten ihr Licht geheimnisvoll glitzernd wie verstreute Glassplitter. Als der Zug in die Kurve ging, zogen die beiden Monde langsam am Fenster vorbei, ließen als stummes Zeichen diese kleinen Scherben zurück und waren bald aus seinem Blickfeld verschwunden.
    Als die Monde nicht mehr sichtbar waren, kehrte die Wärme wieder in Tengos Brust zurück. Es war eine ermutigende Wärme, die ein fernes, aber festes Versprechen vermittelte und dem Reisenden wie ein kleines Licht den Weg wies.
    Von nun an werde ich in dieser Welt leben, dachte Tengo mit geschlossenen Augen. Er wusste noch nicht, wie sie entstanden war und nach welchen Prinzipien sie sich bewegte. Was in ihr geschehen würde, ließ sich nicht vorhersagen. Aber das war ihm gleich. Er brauchte keine Angst zu haben. Was ihn auch erwartete, er würde auf der Welt mit den zwei Monden überleben und seinen Weg finden. Wenn er diese Wärme nicht vergaß und den Mut nicht verlor.
    Lange hielt Tengo die Augen geschlossen. Als er sie endlich aufschlug und in die frühherbstliche Dunkelheit vor dem Fenster blickte, war das Meer nicht mehr zu sehen.
    Ich werde Aomame finden, bekräftigte er seinen Entschluss. Was auch geschieht, wo und wer sie auch sei.

In diesem Roman wurden Begriffe und Formulierungen verwendet, die im Jahre 1984 eventuell noch nicht üblich waren.
    Die Insel Sachalin von Anton Tschechow wurde zitiert nach: Anton Čechov, Die Insel Sachalin, aus dem Russischen von Gerhard Dick, hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Peter Urban, Diogenes: Zürich 1976.

Der Autor

    Haruki Murakami, 1949 geboren, ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen, die in rund vierzig Sprachen übersetzt wurden. 2006 erhielt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher