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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2
Autoren: Haruki Murakami
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war.
    Er hatte eine Gesamtlänge von etwa 1,40 oder 1,50 Meter. Beim ersten Hinsehen erinnerte seine schöne glatte geschwungene Form an eine Erdnussschale. Die Oberfläche wirkte wie von kurzen weichen Daunen überzogen und hatte einen ebenmäßigen gedämpften Schimmer. Sie leuchtete schwach und zartgrün in der sich stetig vertiefenden Dunkelheit. Das flaumige Ding lag reglos auf dem Bett, wie um die zeitweise Leere zu füllen, die der Körper seines Vaters zurückgelassen hatte. Die Hand am Türknauf, blieb Tengo im Türrahmen stehen und musterte den seltsamen Gegenstand eine Weile. Seine Lippen bewegten sich, aber es kamen keine Worte.
    Was in aller Welt ist das?, fragte Tengo sich, während er wie angewurzelt dort stand und die Augen zusammenkniff. Wieso lag anstelle seines Vaters jetzt dieses Ding hier? Er wusste sofort, dass es nichts war, was der Arzt oder die Schwestern gebracht hatten. Es war von einer besonderen Atmosphäre umgeben, die sich außerhalb realer Schwingungsphasen befand.
    Plötzlich wusste Tengo es, obwohl er noch nie eine gesehen hatte: Das Ding war eine »Puppe aus Luft«.
    In Fukaeris Roman hatte er sie in allen Einzelheiten beschrieben, aber selbstverständlich nie eine mit eigenen Augen gesehen. Es wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass so etwas tatsächlich existierte. Doch das Gespinst, das da vor ihm lag, entsprach genau seiner Vorstellung von der Puppe aus Luft. So hatte er sie selbst geschildert. Er hatte ein heftiges Gefühl von Déjà-vu, als würde ihm mit einer Zange der Magen zusammengepresst. Dennoch betrat er den Raum und schloss die Tür hinter sich. Er schluckte den Speichel, der sich in seinem Mund gesammelt hatte. In seiner Kehle entstand ein unnatürlicher Laut.
    Langsam näherte er sich dem Bett. Etwa einen Meter davon entfernt blieb er stehen und nahm die Puppe aufmerksam in Augenschein. Er musste zugeben, dass sie genauso aussah wie auf der einfachen Bleistiftzeichnung, die er angefertigt hatte, bevor er das Gebilde mit Worten beschrieb. Er hatte seine Vorstellung damals zunächst visualisiert, ehe er sie in Text umwandelte. Die Skizze war während der gesamten Zeit, in der er Fukaeris Manuskript bearbeitet hatte, an die Wand vor seinem Schreibtisch gepinnt gewesen. Die Form des Gespinstes ähnelte eher einem Kokon als einer Puppe. Aber für Fukaeri (und damit auch für ihn) war nur die Bezeichnung »Puppe aus Luft« in Frage gekommen.
    Die meisten äußeren Merkmale der Puppe hatte Tengo ausgearbeitet. Zum Beispiel die anmutige Wespentaille in der Mitte und die weiche, schmeichelnde Wölbung an beiden Enden. All das waren Tengos Erfindungen, die in Fukaeris ursprünglicher Geschichte nicht vorkamen. Für Fukaeri war die Puppe aus Luft eben einfach die Puppe aus Luft gewesen, sozusagen ein Mittelding zwischen Verkörperung und Idee. Sie hatte keine Notwendigkeit verspürt, sie sprachlich detailliert auszugestalten. Das hatte Tengo übernehmen müssen. Und jetzt war die Puppe, die vor ihm lag, tatsächlich in der Mitte verjüngt und zu beiden Seiten hübsch gerundet.
    Eine Puppe aus Luft, wie ich sie gezeichnet und beschrieben habe, dachte Tengo. Es war wie bei den beiden Monden. Etwas, das er geschildert hatte, war aus irgendeinem Grund bis ins Detail Wirklichkeit geworden. Realität und Phantasie, Ursache und Wirkung hatten sich verkehrt.
    Die seltsame Empfindung, dass seine Nerven verdreht wurden, breitete sich in seinen Gliedmaßen aus, und es überlief ihn kalt. Er konnte nicht mehr unterscheiden, bis wohin die Wirklichkeit reichte und wo die Fiktion begann. Bis wohin Fukaeri reichte und wo er selbst begann. Und an welchem Punkt sie sich zu einem »Wir« vereinigten.
    Über den Kamm der Puppe verlief ein gerader vertikaler Riss. Sie schien im Begriff, aufzubrechen, und ein etwa zwei Zentimeter breiter Spalt war entstanden. Tengo hätte sich wahrscheinlich nur ein wenig vorbeugen müssen, um hineinspähen zu können. Aber dazu fehlte ihm der Mut. Ohne die Puppe aus den Augen zu lassen, setzte er sich auf den Hocker neben dem Bett und versuchte regelmäßig durchzuatmen, indem er seine Schultern leicht hob und senkte. Weiß und diffuses Licht verströmend, lag die Puppe vor ihm. Reglos.
    Wartete in aller Ruhe, dass Tengo sich ihr wie einer ihm gestellten mathematischen Aufgabe näherte.
    Was sich wohl darin verbarg?
    Was die Puppe ihm wohl zeigen wollte?
    Im Roman entdeckte die junge Heldin darin ein anderes Ich, ein Ebenbild ihrer selbst. Die Daughter. Sie
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