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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2
Autoren: Haruki Murakami
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nicht hören«, sagte Tengo.
    »Während meiner Ausbildung zur Krankenschwester habe ich gelernt, dass lebhaftes Sprechen die Menschen aufheitert. Von heiteren Worten gehen positive Schwingungen aus. Ob der Angesprochene versteht, was im Einzelnen gesagt wird, macht physikalisch keinen Unterschied. Daher hat man uns beigebracht, die Patienten, ob sie uns nun hören oder nicht, immer laut und gut gelaunt anzusprechen. Es nutzt auf alle Fälle etwas, Vernunft hin oder her. Meine Erfahrungen bestätigen es.«
    Tengo dachte einen Moment nach. »Danke«, sagte er. Schwester Omura nickte kurz und verließ mit raschen Schritten das Zimmer.
    Tengo und sein Vater bewahrten danach ein langes Schweigen. Tengo hatte nichts mehr zu sagen. Aber es war keine unbehagliche Stille. Das nachmittägliche Licht schwand immer mehr, und Abendstimmung senkte sich über den Raum. Lautlos und fast unmerklich verblassten die letzten Strahlen der Sonne.
    Plötzlich fand Tengo, dass er seinem Vater von den beiden Monden erzählen sollte. Er hatte ihm ja noch nicht gesagt, dass er inzwischen in einer Welt mit zwei Monden lebte. »Man kann hinschauen, soviel man will, es bleibt ein ungewohnter Anblick«, wollte er sagen. Aber dann spürte er, dass es fruchtlos wäre, jetzt noch mit dieser Geschichte anzufangen. Für seinen Vater war es egal, wie viele Monde am Himmel standen. Mit diesem Problem musste Tengo allein zurechtkommen.
    Und ob es nun auf dieser (beziehungsweise jener Welt) einen, zwei oder drei Monde gab, Tengo blieb immer nur eine Person. Wo war also der Unterschied? Ganz gleich, wo er war, Tengo war einfach Tengo. Er hatte persönliche Probleme und eine persönliche Begabung, er war noch immer derselbe. Genau, der springende Punkt waren gar nicht die Monde, sondern er selbst war es.
    Nach einer halben Stunde kam noch einmal Schwester Omura. Aus irgendeinem Grund steckte der Kugelschreiber nicht mehr in ihrem Haar. Was wohl aus ihm geworden war? Diese Frage beschäftigte Tengo sehr. Zwei Pfleger schoben gemeinsam ein Rollbett ins Zimmer. Beide waren stämmig und dunkelhäutig. Sie sprachen kein Wort. Wahrscheinlich stammten sie aus einem anderen Land.
    »Herr Kawana, wir müssen Ihren Vater ins Untersuchungszimmer bringen. Würden Sie bitte so lange hier warten?«, sagte die Schwester.
    Tengo schaute auf die Uhr. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
    Die Krankenschwester schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Wir bringen ihn nur rüber, weil wir hier nicht die nötigen Geräte haben. Das ist nichts Außergewöhnliches. Sie können später noch einmal mit dem Doktor sprechen.«
    »Gut. Dann warte ich hier.«
    »In der Cafeteria könnten Sie einen heißen Tee trinken. Sie sollten sich ein bisschen entspannen.«
    »Danke«, sagte Tengo.
    Während einer von ihnen den Infusionsschlauch hielt, hoben die beiden Männer den ausgemergelten Körper seines Vaters vorsichtig auf das Rollbett und fuhren ihn samt Infusionsständer in den Flur. Sie wirkten sehr routiniert. Dabei sagten sie von Anfang bis Ende kein Wort.
    »Es wird nicht lange dauern«, sagte die Krankenschwester.
    Aber es dauerte doch ziemlich lange. Das Tageslicht, das von draußen durch das Fenster schien, wurde immer schwächer, aber Tengo schaltete die Lampe nicht an. Ihm war, als hätte er dadurch etwas Wichtiges im Zimmer beschädigt.
    Der Körper seines Vaters hatte einen leichten Abdruck auf dem Bett hinterlassen. Viel konnte er eigentlich nicht mehr wiegen, aber dennoch war seine Form deutlich zu erkennen. Diese Einbuchtung gab Tengo das Gefühl, völlig allein auf dieser Welt zurückgelassen worden zu sein. Fast fürchtete er, wenn die Sonne einmal untergegangen wäre, würde es nie wieder Tag werden.
    Lange saß er reglos und in Gedanken versunken auf dem Hocker, während die Vorboten der Dunkelheit alles in ihre gedämpften Farben tauchten. Plötzlich fiel ihm auf, dass er eigentlich gar nichts dachte. Dass er statt in Gedanken nur in bodenloser Leere versank. Langsam stand er auf und ging ins Bad, um sich zu erleichtern. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, trocknete es mit seinem Taschentuch ab und schaute in den Spiegel. Den Rat der Schwester beherzigend, ging er hinunter in die Cafeteria, um einen heißen grünen Tee zu trinken.
    Als er nach etwa zwanzig Minuten wieder das Krankenzimmer betrat, hatte man seinen Vater noch immer nicht zurückgebracht. Stattdessen lag in der von ihm hinterlassenen Einbuchtung ein weißer Gegenstand, der vorher nicht dort gewesen
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