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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2
Autoren: Haruki Murakami
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passen. Ich lüge nicht, das ist meine ehrliche Meinung: Ich war unbedeutend, eine Mensch ohne Verdienste. In gewissem Sinn habe ich mich selbst heruntergezogen. Mittlerweile weiß ich das sehr gut. Als Kind war ich tatsächlich ein kleines Mathematikgenie, hielt mich aber für ein großartiges Talent. Alle beachteten mich und machten großes Aufhebens um mich. Aber es war eine Begabung, die letzten Endes zu nichts führte. Nichts von Bedeutung zumindest. Sie war einfach nur da . Genauso wie ich von Natur aus groß war und gut im Judo. Bei den Präfekturmeisterschaften kam ich immer auf einen der oberen Plätze. Hätte ich mich jedoch in die weite Welt hinausgewagt, wäre ich auf jede Menge bessere Judokas gestoßen. Schon an der Universität schaffte ich es nicht in die Auswahl für die landesweiten Meisterschaften. Das war ein Schock für mich, und eine Zeit lang wusste ich überhaupt nicht, wer ich war. Natürlich nicht. Denn eigentlich war ich ja auch niemand.«
    Tengo öffnete den Verschluss der Mineralwasserflasche, die er mitgebracht hatte, und nahm einen Schluck. Dann setzte er sich wieder auf den Hocker.
    »Wie gesagt, ich bin dir dankbar. Ich glaube nicht, dass ich tatsächlich dein Sohn bin. Eigentlich bin ich sogar überzeugt, dass ich es nicht bin. Aber du hast für mich gesorgt, obwohl du nicht mein leiblicher Vater bist. Es ist sicher nicht einfach für einen alleinstehenden Mann, ein kleines Kind großzuziehen. Ich erinnere mich mit Widerwillen und Langeweile daran, dass ich mit dir die Rundfunkgebühren für NHK kassieren gehen musste. Aber inzwischen ist das nicht mehr als eine schlechte Erinnerung. Dir fiel sicher einfach nichts Besseres ein, was du mit mir unternehmen konntest. Du hast, wie soll ich sagen, dein Bestes gegeben . Dein Beruf war vermutlich der einzige Berührungspunkt zwischen dir und der Gesellschaft. Und den hast du mir zeigen wollen. Jetzt würde ich das verstehen. Natürlich hast du auch mit einkalkuliert, dass die Begleitung eines Kindes dir das Kassieren erleichtern würde. Aber das allein war es sicher nicht.«
    Tengo machte eine kurze Pause und ließ die Worte auf seinen Vater wirken. Währenddessen ordnete er seine eigenen Gedanken.
    »Aber als Kind habe ich das natürlich nicht verstanden. Ich habe mich einfach nur geschämt und fürchterlich gelangweilt. Während meine Mitschüler sich vergnügten, musste ich sonntags herumlaufen und an fremden Türen klingeln. Schon das Herannahen des Sonntags war mir ein Graus. Aber inzwischen kann ich dich zumindest bis zu einem gewissen Grad verstehen. Ich will nicht behaupten, dass das, was du getan hast, richtig war. So weit würde ich nicht gehen. Immerhin habe ich seelisch sehr darunter gelitten. Für ein Kind ist das schlimm. Aber es ist nun einmal geschehen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Auf der anderen Seite hat es mich ja auch ein bisschen härter gemacht. Das Leben auf dieser Welt ist nicht unbedingt ein Zuckerschlecken. Wie ich am eigenen Leib erfahren habe.«
    Tengo spreizte die Hände und betrachtete eine Weile seine Handflächen.
    »Ich werde jetzt irgendwie weiterleben. Vielleicht besser als bisher und vielleicht auch ohne sinnlose Umwege. Was du jetzt machen willst, Vater, weiß ich nicht. Vielleicht willst du einfach nur ruhig schlafen. Und nicht mehr aufwachen. Wenn es so ist, finde ich das in Ordnung. Und werde dich nicht stören. Ich werde dich einfach schlafen lassen. Aber ich wollte dir wenigstens einmal erzählen, was inzwischen aus mir geworden ist und wie ich denke. Vielleicht wolltest du das ja gar nicht hören. In diesem Fall entschuldige ich mich, dass ich dich belästigt habe. Mehr habe ich nicht zu sagen. Ich habe dir so ziemlich alles erzählt, was du meiner Ansicht nach wissen solltest. Jetzt werde ich dich nicht mehr stören. Du kannst nach Herzenslust schlafen.«
    Kurz nach fünf kam noch einmal die Krankenschwester mit dem Kugelschreiber im Haar und überprüfte die Infusionsmenge. Die Temperatur nahm sie diesmal nicht.
    »Ist irgendeine Veränderung aufgetreten?«
    »Nein. Er schläft nur die ganze Zeit«, sagte Tengo.
    Die Schwester nickte. »Der Herr Doktor kommt gleich. Wie lange können Sie heute bleiben, Herr Kawana?«
    Tengo sah auf die Uhr. »Ungefähr bis halb sieben, um kurz vor sieben fährt mein Zug.«
    Als die Krankenschwester mit ihren Eintragungen fertig war, steckte sie sich den Stift wieder ins Haar.
    »Ich habe seit Mittag mit ihm gesprochen, aber anscheinend kann er mich
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