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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2
Autoren: Haruki Murakami
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Schriftsteller sind nicht schlecht. Auch der Redakteur schätzt mich ein wenig. Aber darüber mache ich mir ohnehin keine großen Sorgen.«
    Eigentlich hätte er noch hinzufügen müssen, dass er offenbar eine Veranlagung zum Receiver besaß. Und daher praktisch in die fiktionale Welt, die er selbst beschrieben hatte, hineingezogen worden war. Aber es hätte nichts gebracht, jetzt mit dieser komplizierten Sache anzufangen. Das war wieder eine ganz andere Geschichte. Er beschloss, das Thema zu wechseln.
    »Mein größtes Problem ist, dass ich bisher nie jemanden ernsthaft lieben konnte. Seit ich denken kann, hat es keinen Menschen gegeben, den ich bedingungslos geliebt hätte. Ich hatte noch nie das Gefühl, mich jemandem öffnen zu können. Kein einziges Mal.«
    Tengo fragte sich, ob der arme alte Mann hier vor ihm in seinem ganzen Leben jemals einen Menschen von ganzem Herzen geliebt hatte. Vielleicht hatte er Tengos Mutter ernsthaft geliebt. Und deshalb den kleinen Tengo als sein eigenes Kind aufgezogen, obwohl er wusste, dass er nicht von ihm war. Wenn es so war, hatte er ein emotional ausgefüllteres Leben geführt als Tengo.
    »Nur ein Mädchen war so etwas wie eine Ausnahme. Wir sind vor etwa zwanzig Jahren in Shinagawa zusammen in die dritte und vierte Klasse gegangen. Ich fühlte mich sehr stark zu diesem Mädchen hingezogen. Ich habe eigentlich immer an sie gedacht und tue es auch jetzt noch oft. Obwohl ich kaum mit ihr gesprochen habe. Irgendwann hat sie die Schule gewechselt, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Doch vor kurzem ist etwas Bestimmtes passiert, und ich habe versucht, sie zu finden. Mir ist endlich klar geworden, dass ich sie brauche. Ich habe ihr so viel zu sagen. Doch ich kann einfach nicht herausfinden, wo sie ist. Ich hätte viel früher anfangen sollen, nach ihr zu suchen. Dann wäre wahrscheinlich alles leichter gewesen.«
    Hier schwieg Tengo einen Moment und wartete, dass das, was er ihm bis jetzt erzählt hatte, sich im Kopf seines Vaters setzte. Oder besser gesagt, sich in seinem eigenen Kopf setzte. Dann sprach er weiter.
    »Aber ich war einfach zu feige. Aus dem gleichen Grund habe ich auch nie in unserem Familienregister nachgeschaut. Wenn ich gewollt hätte, wäre es so ein Leichtes gewesen herauszufinden, ob meine Mutter wirklich gestorben ist. Ich hätte nur aufs Rathaus gehen und einen Blick in die Akten werfen müssen, dann hätte ich sofort Bescheid gewusst. Tatsächlich hatte ich es auch immer wieder vor. Ein paar Mal ging ich sogar bis zum Rathaus. Aber ich schaffte es einfach nicht, die Dokumente einzusehen. Ich hatte Angst vor den Fakten, die sich mir präsentieren würden. Angst, sie mit eigenen Händen ans Licht zu bringen. Also wartete ich, dass sich alles irgendwann von allein klären würde.«
    Tengo seufzte.
    »Jedenfalls hätte ich viel früher anfangen sollen, dieses Mädchen zu suchen. Ich habe einen großen Umweg gemacht. Aber ich konnte mich einfach nicht aufraffen. In Herzensdingen bin ich ein großer Feigling. Das ist ein fataler Fehler.«
    Tengo stand von dem Hocker auf, ging ans Fenster und betrachtete das Kiefernwäldchen. Der Wind hatte sich völlig gelegt. Es war kein Meeresrauschen zu hören. Durch den Garten stolzierte eine große Katze. Sie schien trächtig zu sein, so wie ihr Bauch nach unten hing. Sie streckte sich unter einem Baum aus und begann ihren Bauch zu lecken.
    »Aber abgesehen davon sieht es in letzter Zeit so aus, als würde sich in meinem Leben endlich etwas ändern. Zumindest habe ich das Gefühl. Ehrlich gesagt habe ich immer einen Groll gegen dich gehegt. Von klein auf fand ich, dass ich kein Mensch für einen so armseligen eingeengten Ort war, sondern einer, der in glücklichere Umstände gehörte. Ich fand es so ungerecht, dass ausgerechnet mir diese Behandlung zuteilwurde. Alle meine Mitschüler schienen ein viel glücklicheres, schöneres Leben zu führen. Kinder, die mir in Fähigkeiten und Begabung unterlegen waren, hatten es so unvergleichlich viel lustiger. Ich habe mir damals ernsthaft gewünscht, dass du nicht mein richtiger Vater wärst. Ständig träumte ich davon, dass alles ein Irrtum sei und wir nicht blutsverwandt wären.«
    Tengo sah wieder aus dem Fenster und beobachtete die Katze. Sie merkte es nicht und leckte weiter selbstvergessen ihren gewölbten Bauch. In ihren Anblick versunken, fuhr Tengo fort.
    »Inzwischen denke ich das nicht mehr. Ich finde, dass ich eine Umgebung und einen Vater habe, die zu mir
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