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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2
Autoren: Haruki Murakami
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Schwierigkeiten. Ohne zu zögern, zog sie ihre hohen Schuhe aus und verstaute sie in ihrer Tasche. Wahrscheinlich würde sie sich die Strumpfhose ruinieren. Aber sie konnte sich ja irgendwo eine neue kaufen.
    Die Leute beobachteten stumm, wie sie ihre Schuhe und dann den Mantel auszog. Im Hintergrund ertönte aus dem offenen Fenster eines gerade zum Stehen gekommenen schwarzen Toyota Celica die hohe Stimme von Michael Jackson. Als würde ich auf einer Bühne einen Striptease zu »Billie Jean« hinlegen, dachte sie. Macht nichts. Gucken ist erlaubt. Im Stau zu stehen muss wirklich todlangweilig sein. Aber damit hat sich’s auch schon, Leute, Schuhe und Mantel, mehr gibt’s heut nicht. Tut mir leid.
    Aomame schlang sich die Tasche um, damit sie ihr nicht herunterfiel. Der nagelneue schwarze Toyota Crown Royal Saloon, in dem sie bis eben noch gesessen hatte, lag weit hinter ihr. Die Nachmittagssonne fiel auf die Windschutzscheibe, die blendend hell gleißte wie ein Spiegel. Das Gesicht des Fahrers war nicht zu erkennen. Doch er sah sie bestimmt.
    Nicht vom äußeren Schein täuschen lassen. Es gibt immer nur eine Realität.
    Aomame atmete tief ein und aus. Dann kletterte sie, die Melodie von »Billie Jean« im Ohr, über das Gitter. Ihr Minirock rutschte ihr fast bis zur Hüfte hoch. Und wenn schon, dachte sie. Sollen Sie ruhig glotzen. Wer mir unter den Rock guckt, hat mich noch lange nicht durchschaut. Außerdem hielt Aomame ihre schönen schlanken Beine für den weitaus vorteilhaftesten Teil ihres Körpers.
    Auf der anderen Seite des Gitters angelangt, zupfte Aomame ihren Rocksaum zurecht, wischte sich den Staub von den Händen, zog den Mantel wieder an und hängte sich die Tasche über die Schulter. Mit einem Druck auf den Steg schob sie ihre Sonnenbrille in die richtige Position zurück. Die Treppe lag vor ihr. Eine grau gestrichene Eisentreppe. Eine schlichte, unpersönliche Treppe, die nur einem funktionalen Zweck diente. Sie war nicht dafür geschaffen, dass Frauen in Strümpfen und engen Miniröcken darauf herumturnten. Allerdings sollte man bedenken, dass das Kostüm von Junko Shimada auch nicht für Klettertouren entworfen war. Ein großer Lastwagen donnerte auf der Gegenfahrbahn vorbei und ließ die Treppe vibrieren. Der Wind pfiff durch die eisernen Sprossen. Doch immerhin gab es eine Treppe. Und nur sie führte auf die ebene Erde.
    Aomame drehte sich ein letztes Mal um und blickte in der Haltung eines Menschen, der einen Vortrag beendet hat und nun noch auf dem Podium stehend die Fragen des Publikums erwartet, von links nach rechts und dann von rechts nach links auf die dichte Schlange der Wagen auf der Straße. Sie waren kein bisschen vorangekommen. In Ermangelung einer anderen Beschäftigung beobachteten die dort festsitzenden Leute jede einzelne ihrer Bewegungen. Was macht diese Frau eigentlich?, fragten sie sich argwöhnisch. Bewundernde, gleichgültige, neidische oder verachtende Blicke fielen auf Aomame, die über das Gitter geklettert war. Wie eine instabile Waage schwankten ihre Gefühle, ohne sich einer Seite zuneigen zu können, unruhig hin und her. Schweigen lastete auf der Umgebung. Niemand hob die Hand, um eine Frage zu stellen (selbst wenn jemand eine Frage gestellt hätte, hätte Aomame sie natürlich nicht beantwortet). Die Menschen warteten nur stumm auf eine Gelegenheit, die niemals kommen würde. Aomame zog leicht das Kinn ein, biss sich auf die Unterlippe und bedachte sie kurz mit einem abschätzigen Blick durch ihre dunkelgrüne Sonnenbrille.
    Ihr könnt euch bestimmt nicht vorstellen, wer ich bin, wohin ich jetzt gehe und was ich tun werde, sagte Aomame, ohne ihre Lippen zu bewegen. Ihr sitzt dort fest und geht nirgendwohin. Könnt weder vor noch zurück. Im Gegensatz zu mir. Auf mich wartet Arbeit, die getan werden muss. Ich habe eine Mission zu erfüllen. Deshalb gehe ich – mit eurer gütigen Erlaubnis – schon mal vor.
    Zum Schluss hätte Aomame den Leuten am liebsten eine Fratze geschnitten. Aber sie bezwang sich. Sie hatte keine Zeit für Spielereien. Wenn sie einmal das Gesicht verzogen hatte, würde es sie zu viel Mühe kosten, wieder zu ihrem ursprünglichen Ausdruck zurückzukehren.
    Also kehrte Aomame ihren stummen Zuschauern den Rücken zu und begann, die Kälte der eisernen Sprossen an ihren Fußsohlen spürend, vorsichtig die Treppe hinunterzusteigen. Der zu Anfang April noch kühle Wind ließ ihre Haare flattern und entblößte hin und wieder ihr unregelmäßig
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