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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2
Autoren: Haruki Murakami
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gewissen Zeit normalisierte sich alles wieder. Er zog ein Taschentuch hervor und presste es sich auf den Mund. Er hob eine Hand, um seinem Gegenüber zu signalisieren, dass er die Lage im Griff habe und man sich nicht zu beunruhigen brauche. Mal war nach dreißig Sekunden alles vorbei, mal dauerte es über eine Minute. Währenddessen spulte sich die Szene automatisch wie ein Videoband in Endlosschleife immer wieder ab. Seine Mutter löste den Träger des Unterkleids, und der fremde Mann saugte an ihrer steifen Brustwarze. Sie schloss die Augen und gab einen tiefen Seufzer von sich. Der Duft der Brust seiner Mutter umschwebte Tengo und erfüllte ihn mit Sehnsucht. Für kleine Kinder ist der Geruchssinn das schärfste Instrument. Er teilt ihnen das meiste mit. Manchmal sogar alles. Geräusche waren nicht zu hören. Die Luft wurde zäh, dickflüssig. Der einzige Laut, den er wahrnahm, waren die sachten Schläge seines eigenen Herzens.
    Schau dir das an, sagten sie. Sieh nur, sagten sie. Hier bist du und kannst nirgendwo anders hin. Diese Botschaft wiederholte sich unablässig.
    Diesmal dauerte der »Anfall« ziemlich lange. Tengo schloss die Augen, stopfte sich wie üblich sein Taschentuch in den Mund und biss fest zu. Wie lange, wusste er nicht. Als alles vorbei war, verspürte er nur eine völlige körperliche Erschöpfung. Er war absolut erledigt. So müde war er noch nie gewesen. Es dauerte ewig, bis er überhaupt die Lider öffnen konnte. Sein Bewusstsein strebte nach einem raschen, abrupten Erwachen, das seine Muskeln und Organe jedoch verweigerten. Es war wie bei einem Tier, das zur falschen Jahreszeit gewaltsam aus dem Winterschlaf gerissen wurde.
    »He, Tengo«, rief jemand ihn von vorn an. Die Stimme klang dumpf und fern, wie aus einem tiefen Tunnel. Tengo registrierte, dass es sein Name war, den sie rief. »Was ist los? Wieder diese Sache? Alles in Ordnung?«, sagte die Stimme, diesmal ein bisschen näher.
    Endlich schlug Tengo die Augen auf und konzentrierte seinen Blick auf seine rechte Hand, die die Tischkante umklammerte. Er vergewisserte sich, dass die Welt intakt war und er sich noch als derselbe auf ihr befand. Ein gewisses Taubheitsgefühl war geblieben, besonders in der rechten Hand. Es roch auch nach Schweiß. Es war ein seltsam wilder Geruch, wie man ihm vor den Käfigen mancher Tiere im Zoo begegnet. Doch er war es, der ihn verströmte.
    Tengo hatte Durst. Er streckte die Hand aus und griff nach dem Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, trank er das Wasser zur Hälfte aus. Er setzte kurz ab, schöpfte Atem und trank dann den Rest. Sein Bewusstsein kehrte allmählich dorthin zurück, wo es sein sollte, und sein Körpergefühl normalisierte sich. Er stellte das leere Glas ab und wischte sich mit dem Taschentuch über den Mund.
    »Entschuldigung. Alles wieder in Ordnung«, sagte er und vergewisserte sich, dass es sich bei dem Mann, der ihm gerade gegenübersaß, wirklich um Komatsu handelte. Sie hatten sich in einem Café in der Nähe des Bahnhofs Shinjuku getroffen. Das um sie herum herrschende Stimmengewirr war jetzt auch wieder normal zu hören. Die beiden Gäste am Nebentisch argwöhnten, dass etwas passiert war, und sahen zu ihnen hinüber. Eine Kellnerin stand mit verstörter Miene in der Nähe. Möglicherweise fürchtete sie, er würde sich auf seinem Platz übergeben. Tengo schaute auf und nickte ihr lächelnd zu: Keine Sorge, alles in Ordnung.
    »Hattest du einen Anfall?«, fragte Komatsu.
    »Nichts Ernstes. Mir war nur ein bisschen schwindlig. Einfach nicht gut«, sagte Tengo. Seine Stimme klang noch immer nicht ganz wie seine eigene. Aber immerhin schon ähnlich.
    »Wäre ziemlich blöd, wenn dir so was beim Autofahren passieren würde.« Komatsu sah Tengo in die Augen.
    »Ich fahre kein Auto.«
    »Umso besser. Ich habe einen Bekannten, der leidet an einer Allergie gegen Zedernpollen. Einmal bekam er im Auto einen Niesanfall und knallte gegen einen Strommast. Dein Niesen ist übrigens auch nicht von Pappe. Als ich es das erste Mal gehört habe, bin ich richtig erschrocken. Mittlerweile habe ich mich etwas daran gewöhnt.«
    »Tut mir leid.«
    Tengo griff nach seiner Kaffeetasse und trank den Rest mit einem Zug aus. Er schmeckte nichts. Es floss nur eine warme Flüssigkeit durch seine Kehle.
    »Möchtest du noch Wasser?«, fragte Komatsu.
    Tengo schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Es geht schon wieder.«
    Komatsu zog ein Päckchen Marlboro aus seinem
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