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1980 Die Ibiza-Spur (SM)

1980 Die Ibiza-Spur (SM)

Titel: 1980 Die Ibiza-Spur (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Gewandelter sei, einen Dreh ins Plausible.
    Allein, mir fehlt der Glaube!
Und er grübelte weiter: Warum gab es nicht auch einen Brief für ihn? Oder warum war er nicht wenigstens in den
    der Mutter gewidmeten Zeilen erwähnt? Nicht, daß er sich übergangen fühlte und nun verletzt war. Nein, was er empfand, als er aus seinem Abteilfenster in die graue, regenverhangene schleswig-holsteinische Landschaft sah, war etwas ganz anderes, es war Skepsis gegenüber der Echtheit des Briefes. Seit Jahren hatte Victor bei allen entscheidenden Fragen und Mitteilungen zwei Adressaten gehabt, die Mutter und den Bruder. Und so hätten die Worte des Abschieds auch an ihn, Klaus, gerichtet sein müssen. Der Zusammenhalt der kleinen Familie war so stark, so zwingend, daß noch niemals einer der drei ein Ereignis von Gewicht ganz bewußt mit nur einem der beiden anderen erörtert hatte. Gerade diese Transparenz machte den Umgang miteinander so harmonisch, war die Grundlage des gegenseitigen Vertrauens. Und so fragte Klaus Hemmerich sich jetzt, und er fragte es wieder ohne die leiseste Spur eines Gekränktseins: Wenn schon hier, im völligen Ignorieren meiner Existenz, eine Ungereimtheit steckt, wieviel ist dann der kaustische Trick noch wert, der unserer Mutter weismachen will, daß sie ihn gar nicht finden könne, weil er sich gewandelt habe?
    Ich kann doch nicht von heute auf morgen Luft für ihn sein, sagte er sich. Und dann fiel ihm eine Kindheitsgeschichte ein, an die er sich nicht wirklich erinnerte, die aber dennoch wie etwas bewußt Miterlebtes in seinem Gedächtnis gespeichert war, so oft und so plastisch war sie ihm von den Eltern erzählt worden: Victor, sieben Jahre alt, saß in der Schule. Weder Panama noch die Tropenkrankheiten gehörten in das Unterrichtsprogramm der Zweitkläßler, aber der Lehrer hatte vor Jahren eine Reise nach Mittelamerika gemacht und erzählte davon, und so war es dann doch ein Thema für die Siebenjährigen. Er erzählte ihnen auch, wie es früher dort drüben gewesen war, sprach von der gelbfieberverseuchten Golfküste, ließ sich durch eine Zwischenfrage auf ein Nebengleis drängen und berichtete ausführlich und suggestiv über die Mücken, die das furchtbare Fieber auf den Menschen übertragen, sprach vom Kanalbau, in dessen Verlauf Tausende von Arbeitern an dieser Krankheit zugrunde gegangen waren, nannte schließlich die Impfungen, mittels derer man sich heute gegen das Gelbfieber schützt.
    Der siebenjährige Victor Hemmerich hörte sich das alles mit wachsendem Interesse, aber auch mit wachsender Sorge an. Als es zur Pause geklingelt hatte und die Klasse auf den Schulhof ging, stahl er sich davon, schlüpfte an dem Hausmeister vorbei und entwischte durch das Schultor auf die Straße. Und lief. Lief ohne Unterbrechung, bis er zu Hause angekommen war. Klingelte Sturm. Als seine Mutter ihm die Tür geöffnet hatte, war er so außer Atem, daß er nicht sprechen konnte. Endlich, nachdem er mehrmals angesetzt und die Mutter ihn schließlich durch beschwichtigende Worte und Gesten einigermaßen beruhigt hatte, kam abrupt und für die Mutter völlig rätselhaft die Frage:
    »Ist Klaus geimpft?«
    Im Wohnzimmer, wo der Dreijährige auf dem Teppich saß und vergnügt mit seinen Bauklötzen spielte, klärte sich
    das Mißverständnis auf. Der kleine Bruder hatte ein Jahr vorher Gelbsucht gehabt, eine leichte Form, und Victor, für den die Äußerungen seines Klassenlehrers etwas unwiderlegbar Gültiges hatten, war während des ganzen langen Wegs nach Haus überzeugt gewesen, die Eltern hatten die Schwere der Krankheit verkannt und ihnen wäre, was seinen Bruder betraf, ein lebensbedrohliches Versäumnis unterlaufen.
    Als der Zug sich Hamburg näherte, war Klaus Hemmerich noch immer mit Victors unbegreiflichem Schritt ins Abseits beschäftigt, erwog er alle nur denkbaren Einflüsse, die den Vierzigjährigen von seinem Weg gedrängt haben mochten. Eine Frau zum Beispiel. Klaus Hemmerich hielt diese Möglichkeit für die unwahrscheinlichste, denn was für eine Frau sollte das wohl sein, die ihn veranlaßt hätte, sein Leben umzukrempeln und dabei die Mutter und den Bruder zu opfern? Eine Krankheit vielleicht? Nein! Victor war nicht der Mann, der sich, wenn er zum Beispiel nur noch ein halbes Jahr zu leben hätte, auf diese Weise aus allen Bindungen löste. Vielleicht würde er sein trauriges Los verschweigen, aber bestimmt nicht würde er einen inneren Wandel erfinden und die Mutter fassungslos
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