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1980 Die Ibiza-Spur (SM)

1980 Die Ibiza-Spur (SM)

Titel: 1980 Die Ibiza-Spur (SM)
Autoren: Hinrich Matthiesen
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sich der Mutter und dem Bruder gegenüber oft ausgedrückt hatte, noch vollzumachen und sich dann in der Bundesrepublik einen Job zu suchen.
    Sein Vater, der vierzig Jahre lang Redakteur bei einer kleinen Zeitung im niederelbischen Raum gewesen war, lebte nicht mehr. Victor war auch zur Zeitung gegangen. Er war Journalist und Reporter geworden und also oft unterwegs, hatte aber sein Hauptquartier bei der Mutter im Blankeneser Elternhaus. Und nun war alles anders geworden! Was mochte da geschehen sein?
    Die beiden Brüder hatten eine glückliche Kindheit erlebt. Sie waren, was unter Geschwistern mit einem vierjährigen Altersunterschied selten ist, Freunde, waren immer füreinander da und – untrügliches Zeichen für inneren Zusammenhalt – sehnten sich bei längerer Trennung nacheinander. Obwohl sie sich oft monatelang nicht sahen, hatten sie den engen Kontakt niemals abreißen lassen, hatten sich regelmäßig geschrieben und manchmal über den halben Globus hinweg miteinander telefoniert. Und wenn sie dann im Blankeneser Elternhaus zusammentrafen, wurde jedesmal ein Fest daraus.
    Klaus Hemmerich nahm sein Bordcase vom Gepäcknetz und zog aus einem Seitenfach die Kopie jenes Briefes heraus, den Victor der Mutter zum Abschied geschrieben hatte. Er hatte ihn im Laufe der vergangenen Wochen wohl ein dutzendmal gelesen, nun las er ihn ein weiteres Mal:
    »Meine liebe Mutter! Ich habe einen Entschluß gefaßt, der Dich erstaunen und bestürzen wird, denn er steht im Gegensatz zu allem, was bislang mein Leben ausmachte, mein Leben und damit auch meine Verbindung zu Dir. Manchmal gibt es im Verlauf eines Daseins Zäsuren, Einschnitte, ja, Einbrüche, die vom einen auf den anderen Tag die Ordnung auf den Kopf stellen und alle bis dahin befolgten Regeln außer Kraft setzen. Ein solcher Einbruch hat bei mir stattgefunden, und ich bin dabei, die Konsequenz zu ziehen und mein Leben neu einzurichten. Ich habe nicht vor, die Welt zu verändern, sondern nur, mir in ihr einen anderen Platz zu suchen, einen, der mit meiner bisherigen Existenz nichts zu tun hat. Du wirst fragen: Warum?
    Ich werde irgendwohin gehen und ein neues Leben anfangen. Mein Beruf ist mir zweifelhaft geworden. Ich sehe keinen Sinn mehr in dem Bemühen, Vorgangs- und Zustandsbeschreibungen von einer Ecke dieser Welt in eine andere zu transportieren mit dem Ergebnis, daß neunzig von hundert Lesern sie nach drei Minuten, vielleicht nach drei Stunden, wenn es hoch kommt, nach drei Tagen wieder vergessen haben. Mag sein, daß dieser Sinn dennoch gegeben ist, vielleicht wegen der zehn Prozent; allein, ich kann ihn für mich nicht mehr sehen.
    Ich lasse Dir meine Sachen schicken, denn auch sie gehören nicht mehr zu meinem Leben. Bitte, such nicht nach mir! Du würdest mich nicht finden. Ich bin ein Gewandelter, für den der Bezug zu allem Bisherigen nicht mehr existiert. Victor.«
    Klaus Hemmerich faltete den Bogen zusammen und steckte ihn zurück ins Bordcase. Und wieder, wie schon so oft seit Erhalt des Briefes, resümierte er:
    Ganz sicher, es ist seine Schreibmaschine, die alte Remington unseres Vaters, für deren Wiederbelebung und Instandhaltung er mehr Geld ausgegeben hat, als eine neue kostet. Es gibt keinen Zweifel, ich seh’s am verrutschten »M« und am lädierten »O«. Es ist das alte, ramponierte Ding, das dreimal soviel wiegt wie eine moderne Reiseschreibmaschine und das er aus purer Pietät immer wieder um den Globus schleppt und für das er bei den Luftlinien, wenn sie kleinlich sind, Übergewicht bezahlen muß.
    Es ist ohne Frage auch sein Stil. Das antiquierte ›allein‹ anstelle des heute üblichen ›jedoch‹ ist eine Marotte, die er aus Verehrung für die Klassiker nicht abgelegt hat. Auch die Unterschrift scheint echt zu sein, und Gedanken sind da, die zu ihm passen. Ich kenne die kritischen Aspekte seiner Auffassung vom Journalismus. Wir haben oft darüber gesprochen. Aber es ist ganz und gar nicht seine Art, unsere Mutter, für deren Wohlergehen er jederzeit und unter Opfern eingetreten wäre, mit drei Dutzend maschinegeschriebenen Zeilen abzuspeisen. Allerdings: Indem er die Zäsur nennt, den Einbruch, den radikalen Wandel, der alle ins Rückwärtige weisenden Bezüge kappt, ist auch dieser Widerspruch in gewisser Weise erklärt. Also: Die Maschine stimmt, der Stil stimmt, die Ansicht über den Journalismus stimmt, und sogar das an sich Unbegreifliche seines Entschlusses bekommt durch den logischen Trick, daß er ja nun ein
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