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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman
Autoren: Aufbau
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waren da im Gange, wir hatten uns an heiliger Stätte versammelt. So war das.
    Diese sympathischen Männer packen frisch gepflückte Feigen und Pflaumen aus, dazu Hummus und Salate und Flaschen mit Arrak, Saft und Wasser, und aus der Hütte kommt besagter Jecheskel. Leicht gebeugt, mehr Zahnlücken als Zähne im Mund, lächelt er seinen Freunden und mir zu, wirkt wie ein antiker Held in Ruinen. Er trägt eine graue Schirmmütze und setzt sich lächelnd mirgegenüber an die Stirnseite des Tisches, und alle blicken wechselweise ihn und mich an, als hätte, frei nach Jesaja, »ein Ochse seinen Besitzer gefunden«. Und ich bin ja im Tierkreiszeichen des Stiers geboren, im Monat Mai 1930, »dem schönsten aller Maien, die Mutter Erde je erschaffen«, wie Natan Alterman – wer sonst wohl – gedichtet hat. Einige Lacher kommen auf, ein lauteres Lauern liegt in der Luft, nach einem Feuer, nach irgendwas.
    Ich weiß bereits, dass Jecheskel sich seit zweiundsechzig Jahren, seit dem Unabhängigkeitskrieg, abkapselt. Jahrelang wussten seine Kameraden nicht, wo er steckte. Er hatte eine Weile beim Straßenbau gearbeitet, Leitplanken angebracht, hatte irgendwas in der Stadt ausgeliefert. Er hat eine Schwester in Tel Aviv, war mal ein Jahr verheiratet, hat eine Tochter, dann wurde seine Frau fromm und brach den Kontakt zu ihm ab. Nach achtzehn Jahren erfuhr er, dass seine Tochter in Jerusalem heiratete. Er stieg in einen Bus und fuhr nach Jerusalem, ging nach Mea Schearim, stürmte in den Festsaal, in die Frauenabteilung, alle kreischten, aber er hörte nicht hin, umarmte seine Tochter, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, versetzte ihr einen Kuss und ergriff die Flucht.
    Jecheskel ist im Kampf um Kastel steckengeblieben. Seit jenem Gefecht ist dieser starke und traurige Mann mit sich allein, und nur die Kameraden, die ihn ausfindig gemacht und ihm geholfen haben, diese dürftige Hütte mitten im Nirgendwo zu bauen, am Arsch der Welt, nahe einer Stelle, an der wir 1948 mal gekämpft haben – nur sie besuchen ihn, freitagmorgens, nicht immer alle, aber immer irgendwer. Sie kümmern sich um ihn, lieben ihn. Er sieht sie an, als schaue er in ihr Inneres, denn sie tragen sein Geheimnis. Er kennt es nicht, aber all die anderen kennen es, ohne es jedoch zu verstehen, denn das Geheimnisist ein Moment, eine Stunde, vielleicht ein Tag vor langer Zeit, den sie nicht mitgemacht haben. Aber ich war dabei, und daher rührt meine Liebe zu diesem Mann, der noch in jener Zeit lebt, als ich siebzehn Jahre alt war. Ihm gegenübersitzend, wurde ich wieder siebzehn, saß mir selbst vor zweiundsechzig Jahren gegenüber, blickte nicht in die Vergangenheit, sondern in einen Spiegel.
    Vom Weltgeschehen hört Jecheskel im Radio oder von diesen Leuten, aber er lebt im April 1948, und heute ist er vierundachtzig. Den Großteil seines Lebens verbringt er in jenem Moment, an dem Tag oder vielleicht den zwei Tagen am Hang von Kastel, eine Art altes Kind, mit dem Lächeln eines verzerrten Engels, »ein Gott in Ruinen«, wie Emerson es nannte. Er steckt dort fest, wo wir nie waren, denn ich war zwar dort, sah damals aber den nächsten Tag, sah den Augenblick verstreichen, sah das Beinah, das ich mein Leben lang suche, den Augenblick vor dem Niesen, wenn das Gesicht rot anläuft und der Körper sich verkrampft, gefolgt von einem gewaltigen Niesen, ähnlich dem Orgasmus eines Gottes, einer Art von Erleichterung. Wie alle großen Momente im Leben ist solch ein Beinah eine Grenzerfahrung. Und nach all den Jahren sehe ich endlich das absolute Beinah. Jecheskel ist das absolute Beinah. Er ist die Sekunde vor dem Niesen und die Sekunde vor der Entleerung. Er ist mittendrin steckengeblieben, an der Stelle, die kein normaler Mensch berühren kann, denn seit jenem Tag lebt er nicht mehr, fristet nur noch sein Dasein, sein Körper entwickelt sich weiter, aber er selbst verharrt in dem einen schrecklichen Moment, in dem einen grauenhaften, mörderischen und blutigen Kampf, in dem er verwundet wurde, überlebte und wegrobbte.
    Er robbt immer noch über die Hänge des Dorfes Kastel,das längst nicht mehr existiert, nur noch als Ausflugsziel auf Traditionspflegetouren für Soldaten, die zu anderen Kriegen einberufen werden, die er nicht gekannt hat. Er kannte nur jenen einen Krieg, nur das eine Grauen, in dem er verharrte, das ihn einsog, ihn dauerhaft auf eine Eierschale aus Klebeband heftete, auf die er seine Ewigkeit schrieb, die bröckelnde Schale eines Mannes,
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