Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
»schlafen«, schlief ich, hieß es »aufstehen«, stand ich auf. Gab es was zu essen, aß ich. Gab es nichts, kannte ich keinen Hunger. Es kann gut angehen, dass man uns Natron ins knapp bemessene Trinkwasser getan hat, denn ich dachte nicht an die Mädchen, die mich im Jahr zuvor schier verrückt gemacht hatten mit ihrer erblühenden Weiblichkeit. Ich weiß noch sehr wohl, dass ich nichts in meinem angeschlagenen Schädel hatte. Wir waren wie Kinder, geradezu unverschämtjung, hatten uns freiwillig gemeldet. Einfaltspinsel waren wir, Partisanen. Außer mir hatte sich keiner in einer Jugendbewegung engagiert. Deren Mitglieder wurden erst später einberufen, als wir ihnen den Staat schon beinah fix und fertig hingestellt hatten. Wir waren ein zusammengewürfelter Haufen, einer von hier, einer von dort, besaßen noch keine Papiere, außer der Geburtsurkunde aus Palästina/Erez Israel, die wir natürlich nicht bei uns trugen. Warum habe ich dann in diesem durstgeplagten Loch ausgeharrt, warum bin ich nicht nach Hause gegangen, als die Belagerung noch durchlässig war? Ja, warum bin ich nicht einfach heimgekehrt? Schließlich hätte kein Mensch gewusst, was mit mir passiert war, und es hatte auch keiner Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wahrscheinlich hätte man angenommen, ich sei in jordanische Gefangenschaft geraten oder gestorben und an unbekannter Stelle begraben worden, sei vielleicht ein Galmud – ein Alleinstehender, wie es auf dem Totenacker in der Tel Aviver Trumpeldor-Straße auf manchen Gräbern steht, und vielleicht würden sie meinen Leichnam finden, wenn ich tatsächlich an einem Ort gestorben war, wo kein Mensch mich vermutet hätte.
    Ich war ein Tor, der sich aufgemacht hatte, ein Held zu werden und den Feind zu schlagen. Das war ich. Bin ich so früh, mit siebzehneinhalb Jahren, eingerückt, weil ich ein Held war, oder weil ich Angst hatte und vor etwas weglief? Und wenn ja, wovor? Ich war sicher ein Angsthase. Phantasiebegabte Menschen fürchten sich. Sie können auch so dumm sein, sich freiwillig für aussichtslose Missionen zu melden. Aus Angst wurde ich ein Held, der seine Ängste überwand. Früher war ich nämlich ein ziemliches Angstbündel. Hatte Angst vor der Dunkelheit. Vor dem Tod. Vor Menschen. Vor dichtem Gedränge. Vorkrankheitsübertragenden Fliegen, vor diesen Malaria verbreitenden Anopheles-Mücken, von denen meine Mutter Sarah redete, weil sie in ihrer Jugend in Erez Israel Bekanntschaft mit ihnen geschlossen hatte. Ich war kein so edler Recke wie viele meiner Kampfgenossen. Ich war einer, der nicht aufgab. Einer, der dem Tod trotz aller Angst ins Auge sah, ohne den Kopf zu beugen. Ich wusste, dass Tausende obdachlose Holocaustüberlebende an Bord kleiner Schiffe auf dem Meer umhertrieben, weil kein Land sie haben wollte. Ich hatte gelesen, dass Herr Goebbels drei Jahre zuvor gesagt hatte: Wenn die Juden so schlau und so begabt seien und so schön musizierten – wie komme es denn dann, dass kein Staat sie haben wolle? Und ich erinnere mich, dass mich das auf die Palme brachte und ich mithelfen wollte, diese Juden ins Land zu bringen.
    Aber bin ich wirklich deswegen im November 1947, kurz vor dem UN -Teilungsbeschluss, eingerückt? Abgehauen eines schönen Tages im ersten Trimester der zwölften Klasse am Neuen Gymnasium, wo es doch nicht schöner hätte sein können? Mit der hinreißenden Direktorin Tony Halle, die wie eine prächtige Maus aussah und einmal auf einen Stuhl stieg, die Augen schloss und dabei Tränen vergoss, die mit ihrer schönen, tiefen Stimme wie gebannt zu schildern begann, wie Heinrich IV. im Jahr 1077 vor der Felsenburg in Canossa ankam, in der Papst Gregor VII. sich hinter einem Vorhang versteckte, wie der arme Heinrich in Kälte und Schnee barfuß auf der kahlen Erde ausharrte, wie er ohne Schuhe und Strümpfe, ohne Unterwäsche, Hemd oder Mantel weinend dastand, während sich der Papst, warm angezogen, den brennenden Kamin im Rücken, verbarg und Heinrich IV., den schönen Helden und hohen, geliebten, von ihm wahrhaftgeliebten König, beobachtete, der halb erfroren um sein Leben flehte. Und wir alle, die ganze Klasse, weinten, als wir von Heinrichs IV. Schicksal hörten. Ich erinnere mich nur, dass ich eines Tages einfach so von dieser wunderbaren Schule abging, mit einem Ausspruch, den ich selbst nicht glaubte: Mit Quadratwurzelziehen würden wir die Briten nicht aus dem Land kriegen. Und dann meldete ich mich zur Paljam, der Marineeinheit der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher