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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman
Autoren: Aufbau
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Dächer und besonders eines, von dem ich wohl springen wollte. Ich ließ keinen rein. Als ich die Bilder nach dem Krieg wiedersah, wischte ich sie mit Putzmitteln ab.
    Beim Malen stieg mir durch das Fenster über dem Bett meiner Schwester Bratwurstgeruch in die Nase, das weiß ich noch. Ich schlich zur Küche und verschlang die Wurst. Ich entsinne mich vage an den Dochtbrenner, und es gab dort auch einen Primuskocher, auf dem ein Topf Gulasch vergebens auf mich wartete. Ich hörte meine Mutter weinen, und wie im Traum erinnere ich mich irgendwie, dass ich auf den Balkon trat und auf mein Meer starrte, das für mich mehr ein Zuhause war als alle Häuser, in denen ich je gewohnt habe. Sein tiefes Blau an Winterabenden war mein verborgenes Leben, und ich hörte das schmachtende Heulen der Schakale am muslimischen Friedhof, und noch heute erinnere ich mich an die Musik der Regenrinnen, wenn der Regen auf mich niederprasselte, und an die Sonne, die das Meer durchschnitt, und all das gab mir anscheinend einige Sicherheit.
    Mein Vater und meine Mutter hatten Verständnis, wie sie später sagten, und stellten keine Fragen. Sie wussten nicht einmal, dass ich aus Jerusalem gekommen war. Eine Nacht und einen halben Tag später verließ ich das Haus und ging zum Busbahnhof, der schwer beschädigt war. Einen Teil des Weges rannte ich. Dort wartete der Panzerwagen, und es trudelten noch ein paar Jungs ein, die im Stehen zu schlafen schienen. Ein Flugzeug flog am Himmel vorüber. Ein dicker Mann gab mir eine ägyptische Zigarette Marke Simon Arzt mit goldenem Mundstück, wie sie hierzulande damals kaum noch zu bekommen war. Ich stellte mich zu den anderen. Wir begrüßten uns nicht. Den Anfang der Fahrt habe ich nicht mehr in Erinnerung, nur dass es schon heller Mittag war und wir am Bab el-Wad entdeckt und massiv beschossen wurden. Wir feuerten zurück durch die Schießscharten, die wir aufgeschoben hatten, und als ich etwas zurücktrat, um das Magazin zu wechseln, drang eine Kugel durch eine offene Schießscharte und schwirrte von Wand zu Wand. Sie brummte wie eine bleierne Biene, schlug nur schwach an die Wände. Eine Fluchtmöglichkeit gab es nicht. Wir sahen Feuerblitze vorbeisausen, saßen eingesperrt, die Kugel flog und flog und flog, und in der Luft hing mehr Verblüffung als Angst, denn auf so was hatte uns keiner vorbereitet. Man erkannte die Kugel nur an den schwachen Lichtstreifen, die sie im Flug zeichnete, und zwei Kameraden sackten uns auf die Füße. Sie regten sich ein bisschen, schrien, verstummten dann abrupt, und ihr Blut rann uns über die Stiefel. Die Kugel schwirrte weiter, bis ihre Kraft erloschen war. Dann packte Mischka sie und schleuderte sie raus, als wollte er sich an ihr rächen. Den Leichen zu unseren Füßen rann Speichel aus den Mündern, und wir fuhren weiter.
    Schon neunundfünfzig Jahre lang versuche ich diese Dinge niederzuschreiben. Als ich 1949 als Matrose auf der »Van York« mithalf, Holocaustüberlebende ins Land zu bringen, schrieb ich ein Buch mit dem Titel »Bennys Kameraden«, über Benny Marshak. Eine schöne Frau aus Kfar Jehoschua kopierte das Manuskript, aber kein Mensch wollte es haben, und es ging verloren.
    Ich bin nicht sicher, woran ich mich tatsächlich erinnere, traue dem Gedächtnis ja nicht, denn es ist trügerisch und enthält mehr als eine Wahrheit. Und warum sollte die Wahrheit so wichtig sein? Eine Lüge, die aus der Suche nach Wahrheit entsteht, kann wahrer sein als die Wahrheit selbst. Du denkst nach und hast eine Minute später nur das in Erinnerung, was du willst. Ich war ein Junge von siebzehneinhalb Jahren, ein braves Tel Aviver Kind mitten im Blutbad. Ich versuche mich aus meinen vermeintlichen Erinnerungen herauszufischen, aber vielleicht war ich woanders? Ein vertrauenswürdiger Mann sagte mir Jahre später, die Geschichte mit der Kugel im Panzerwagen habe sich nicht am Bab el-Wad zugetragen, sondern auf dem Zionsberg – vielleicht hat er recht? Na und? Vielleicht habe ich fünf Monate unterm Federbett in der Luxusvilla meines seligen Großvaters Jankele Hariri, eines jüdischen Aristokraten in Venezuela, gelegen und das alles nur geträumt?
    Wer war ich damals überhaupt, was habe ich genau gemacht?
    Bin ich auf die Toilette gegangen? Hatten wir überhaupt Toiletten? Habe ich mir jemals die Zähne geputzt? Hatte ich eine Zahnbürste? Und wenn ich mir wie jeder gute Junge in Erez Israel die Zähne geputzt habe, wo hatte ich dann Zahnpasta her? Und was habe ich
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