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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman
Autoren: Aufbau
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zwischen den Gefechten gemacht? Wer war ich, woran dachte ich, abgesehenvon den wenigen Gedanken, an die ich mich erinnere? Und was ist Erinnerung? Erinnerung ist das, was ich als Erinnerung aufzeichne.
    Ich bin alt, nicht bei bester Gesundheit, denke an den neuen Staat, den Ben Gurion gegründet hat. Gut sechzig Jahre ist der Staat heute alt, seine Eltern leben nicht mehr, und seine Erben sind Dummköpfe, Narren, Räuber, Bösewichte, die vergessen haben, woher sie gekommen sind. Und das Erinnern ist doch heikel für einen, der nicht dabei war und nicht gesehen hat, wie gute Menschen irrten oder nicht irrten, wie sie schwer verständliche, aber auch kühne Entscheidungen fällten. Und von denen, die mit mir dort gewesen sind und sich erinnern könnten, wird ja bald keiner mehr übrig sein, obwohl ich sehe, dass es heute mehr davon gibt als damals. Sie haben sich nach dem Tod auf wundersame Weise vermehrt. Es gibt heute ein »Haus der Palmach«, das Palmach-Museum, das größer ist, als die ganze Palmach zur Zeit ihres Bestehens je gewesen ist, und es gibt eine »Generation der Palmach«, die Palmach-Filme dreht und Palmach-Kongresse veranstaltet und Palmach-Gedenkausschüsse finanziert und Palmach-Preise verleiht und die Geschichte der Palmach neu schreibt – eine ganze Organisation zur Klitterung der Erinnerung an die Palmach haben sie ins Leben gerufen! Die echte Palmach wurde 1948 abgeschafft, auf Befehl Ben Gurions, der in seiner rigorosen Zielstrebigkeit erkannte, dass man die Privatarmeen der Parteien, zu denen nun mal auch die Palmach gehörte, auflösen musste, egal, wie viel Blut die Palmach hatte lassen müssen und wie viel Glück sie letzten Endes gebracht hatte, indem sie mit ein paar weiteren Bataillonen einen Staat aus dem Nichts schuf. Bei einer traurigen Abschiedsversammlung im Volkshaus riefen die Anwesendendamals: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.« Nach ihrem Tod wurde die Palmach eine große Armee mit einem großen Palast, wobei neunzig Prozent derer, die sich dort treffen, nie der Palmach angehört haben, als sie noch eine kämpfende Truppe war. Wie man sagt, gibt es ein Leben nach dem Tod, zumindest was die israelischen Untergrundarmeen anbelangt.
    Israel. Jehuda. Der hebräische, jüdische, israelische Staat. Vielleicht ist er nichts als das neue Kanaan, das Land der Amoriter, der Hiwiter und der Jebusiter, der Staat der Juden. Anstelle von Lehrern hatten wir phrasendreschende Propheten, denen wir die Erlösung bringen, die Nazis, ausgelöscht sei ihr Name, besiegen sollten. Mich schloss dieses »Wir allerdings nicht« ein, denn meinem Vater waren neue Staaten im Nahen Osten ziemlich gleichgültig. Er las deutsche Bücher, hörte Beethoven-Quartette und Musik von Monteverdi und träumte auf Deutsch von Berlin, aber die Eltern der meisten meiner Freunde sprachen Jiddisch oder Rumänisch oder Ungarisch, und angesichts des drohenden Krieges erschraken sie furchtbar, weil sie gerade erst erfahren hatten, dass ihre in Europa verbliebenen Angehörigen in der erst vor kurzem beendeten Schoa umgekommen waren. Sie schickten uns mit Begeisterung aus, einen Staat für ihre ermordeten Verwandten zu errichten, einen Staat für ihre Toten, ohne zu ahnen, dass dieser Staat eine Art Irrenhaus in der Wüste werden würde, über und über bestäubt mit dem Knochenmehl der Juden, die nicht lebend eingetroffen waren.
    Israel ist tatsächlich ein Totenstaat. Er wurde für Tote errichtet. Er erinnert stets daran, dass sie vielleicht nicht hätten sterben müssen, wenn wir ihn fünfzig Jahre früher gegründet hätten. Wie kann ein jüdischer Staat mitdem historischen Kitt eines Heiligen, gelobt sei er, leben, der gefühllos, gleichgültig ein Drittel seines Volkes ermordet hat? Hinter uns standen melancholische, alte Revolutionäre, die an das »Dennoch« des großen hebräischen Schriftstellers Josef Chaim Brenner glaubten. Einige von ihnen waren aufgetakelt, klein und fanatisch, schön in ihrem Eifer und in ihrer Liebe für die Geschichte, die ihren Söhnen das Recht verlieh, an ihrer Stelle Rache zu üben. Vielleicht waren sie sogar Aristokraten im armseligen Wortsinn und sahen uns in den Annalen Israels, des ewigen Volkes, eines uralten Volkes, das schon jahrtausendelang ein würdiges Leben anstrebt, ohne zu wissen, wie man in Würde lebt, ein Volk, das lieber sehnt als lebt. Ein Volk, das in der Wüste geboren und aus seinem Heimatland und aus seinem Vaterhaus gegangen war, um sich
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