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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman
Autoren: Aufbau
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übergewechselt, und er sagte, komm mit in unseren Panzerwagen, du bist allein übriggeblieben, und wir haben Arbeit für dich.
    Major Eban, das heißt Abba Eban, musste nach Tel Aviv zurück, meine ich – oder vielleicht war es jemand anders. Und Jerusalem war ja abgeschnitten. Abu Hadscher, wie Eser Weizman ihn später nannte, sprach mit einem schönen, weichen britischen Akzent, sah uns bewundernd an und schien uns zu vertrauen, was ich an seiner Stelle nicht getan hätte. Nach einer holprigen Nachtfahrt über kurvenreiche Umgehungssträßchen und durch trockene Bachbetten, hinter oder hart an den feindlichen Linien – wobei wir beschossen wurden, weil wir nicht deutlich zu erkennen waren, und hier und da zurückfeuerten, ohne genau zu wissen, auf wen eigentlich, und wo einer von uns angeblich einen Esel abknallte, aber keiner außer mir Mitleid mit dem armen arabischen Vierbeiner zeigte –, erreichten wir frühmorgens Tel Aviv. Wir fuhren stadteinwärts und hörten Fliegeralarm. Ägyptische Bomber bombardierten die Stadt, Menschen hasteten in die Luftschutzbunker. Wir stiegen am Busbahnhof aus dem Panzerwagen, sahen von weitem Verletzte und rannten hin, um ihnen zu helfen, doch da fielen noch mehr Bomben, und die Flugzeuge italienischen Fabrikats flogen langsam und laut knatternd am Himmel. Da wir jedoch müde waren und sich auch schon viele Leute um die Verletzten kümmerten, reckten und streckten wir uns im Stehen, nachdem wir acht Stunden lang in dem beschissenen Panzerwagen zusammengepfercht gesessen hatten. Abba Eban suchte den nächsten Bunker auf, es gab weitere Explosionen, und ich ging nach Hause.
    Die Straßen waren menschenleer, und es kehrte Ruhe ein, abgesehen von ballernden Flakgeschützen. Ich sah Männer im Alter meines Vaters mit schwarzen Barett, auf denen »Bürgerwehr« stand. Ich hörte sie pfeifen und rufen, »bitte das Licht löschen«, obwohl der Tag ohnehinschon anbrach und es nicht mehr dunkel war. Aber die Alten mit ihren Gasmasken über der Schulter schrien, »bitte die Luftschutzräume aufsuchen«, »bitte das Licht ausmachen«, und wer sagt heutzutage denn noch »bitte«? Diese schöne alte Sprache war in Berlin geblieben, das damals nur in Tel Aviv zur Miete wohnte.
    Ich betrachtete die Häuser, die so bodenständig wirkten, fest gefügt an den vertrauten Straßen, in denen ich aufgewachsen war. Ich beneidete die Menschen, die nicht draußen zu sehen waren, von denen ich vielleicht wie durch Milchglas geträumt hatte. Ich dachte an meinen Vater, der beim italienischen Luftangriff auf Tel Aviv im Großen Krieg nicht in den Luftschutzraum gegangen war, weil die Wahrscheinlichkeit, in Tel Aviv zu Schaden zu kommen, statistisch betrachtet eins zu fünfzig Millionen stand, wie er erklärte. Deshalb blieb er in seinem Zimmer im vierten Stock, mit Blick auf das Meer und die Schakale, die nachts um den muslimischen Friedhof strichen, und las Jean Paul oder Heine – bis er eines Tages doch im Luftschutzraum auftauchte. Alle fragten ihn überrascht: Mosche, was ist denn mit deiner Statistik?, und er antwortete, er habe im BBC gehört, dass der einzige Elefant, der im Moskauer Zoo überlebt hatte, vorgestern einem Luftangriff zum Opfer gefallen sei.
    Ehe ich noch unsere Wohnung in der Ben-Jehuda-Straße 129 erreicht hatte, fielen Bomben in der Nähe, wahrscheinlich in der Arlozoroff-Straße. Als ich das Haus betrat, sah ich die Nachbarn in Decken gehüllt im Hausflur, der, durch eine weiße Backsteinmauer gegen Splitter geschützt, als Luftschutzraum diente, und vermutlich haben sie mir guten Morgen gesagt und sich wohl auch gewundert, mich zu sehen, weil sie wussten, dass ich weg war. Ich grüßte mit einem Nicken zurück, brachte aberkein Wort heraus und stieg die Treppen hoch zu unserer Wohnung. Meine Mutter rannte mir nach. Später erzählte sie mir, ich sei grußlos eingetreten und ohne ein Wort in mein Zimmer geeilt, das ich mit meiner damals siebenjährigen Schwester Mira teilte, hätte die Tür hinter mir zugeknallt und sei lange nicht mehr herausgekommen. Ich aß nichts, trank nichts. Stunden über Stunden bemalte ich die Wände mit farbigen Kreiden, die ich in meiner Tischschublade gefunden hatte. Anscheinend habe ich den Tisch verrückt und bin draufgeklettert, um auch die Decke zu bemalen. Ich malte böse, monströse Bilder, malte Geier, malte einen Adler, der ein Menschenauge im Schnabel hielt, malte Holocaustüberlebende, die man damals schon auf den Straßen sah, malte
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