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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman
Autoren: Aufbau
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die wir vergessen und die Vergangenheit aus unserem Innern schöpfen, längst gewusst haben.
    Die Leute unter dem Baum haben sich miteinander angefreundet. Sie kennen sich von nirgendwo. Jeder hat viel erreicht in seinem Leben, und sie wollen den einzigen Mann berühren, der in Kastel geblieben ist. Vielleicht gibt es noch mehr solche Leute. Wir alle, die wir dort gekämpft haben, waren und sind ja traumatisiert. Ich warsiebzehn Jahre und elf Monate alt in Jecheskels Gefecht. Aber ich spürte, dass Jecheskel auch für etwas steht, das wir nicht ansprechen. Jüngst hat mir jemand tatsächlich gesagt, du hättest doch türmen können, warum hast du denn weitergemacht, als dir klar wurde, dass du kaum Überlebenschancen hast? Aber als ich Jecheskel nun gegenübersaß – warum gerade da, weiß ich nicht –, seinem faltendurchfurchten, von Ruhe und Trauer erfüllten Gesicht, dem matten Glanz eines alten Soldaten, da dachte ich mir, in jedem Krieg haben Soldaten etwas an sich, das Menschen, die nicht mitgekämpft haben, niemals kennen werden: diesen ungeheuren Hang zum Töten, wenn du einmal dabei bist. Es gibt einen archaischen Instinkt im Menschen, wir werden geboren für den Überlebenskampf, geboren, um zu jagen, unsere Familie zu verteidigen. Ich weiß noch, zwischendurch, zwischen Schmerz und Leere, liebte ich die Kampfmomente. Wir alle liebten sie. Jeder Soldat, der kämpft, liebt das Schießen und Töten. Er hat einen Feind. Der Feind enthebt ihn der Notwendigkeit, über Moral nachzudenken. Im Kampf sind wir menschliche Bestien. Blutdurstig. Da hilft gar nichts.
    Als ich aus dem Krieg zurückkehrte, veranstaltete ein Freund eine Geburtstagsfeier im Garten seiner Eltern. Ich ging hin. Alle meine Freunde aus Vorkriegszeiten waren da. Wir tranken ein bisschen. Große Trinker waren wir nicht. Und nach zwei, drei Stunden echter Freude unter Freunden, als wir eigentlich hätten »am Kamin sitzen und unsere Zeit bei der Palmach aufleben lassen« sollen, kletterte ich trotz meiner Verwundung mit dem eingegipsten oder vielleicht nur noch verbundenen Bein auf einen Tisch – Jecheskel hat jeden Stein auf dem Kastel-Hang in Erinnerung, aber er war dortgeblieben, und ich war schon darüber hinaus und stand bei meinen Freundenund schwang eine Rede. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe. Ich hörte Schreie. Rügen. Nach und nach nahmen alle Reißaus. Auch der Hausherr. Ich stand auf dem grünen Rasen, vor dem kleinen Haus, an dessen Stelle man längst ein vierstöckiges Gebäude errichtet hat, und redete über den Tod. Über das Glück im Tod. Über die Schönheit des Todes. Über meinen Anteil am Schlachtopfer und dass ich keine Reue empfände. Später habe ich bereut. Später habe ich mich selbst kritisiert, aber damals nicht. Auch jetzt nicht, da ich alt geworden bin.
    Ich habe geschrieben, ich hätte ein Kind getötet. Aber jeder, der bei jenem Gefecht dabei war, weiß, dass nicht ich den Jungen getötet habe. Mein Freund, der mir wie ein Bruder ist, hat ihn getötet. Ich habe auf meinen Freund angelegt, um ihn zu töten, ihn aber nicht getroffen. Die Schuld hat eine tiefe Schramme bei mir hinterlassen. Jetzt erst erkenne ich, welche Strafe ich mir auferlegt habe, als ich schrieb, ich hätte das Kind erschossen. Ich habe meinen Freund nicht getroffen.
    Jetzt ist es zwölf Uhr mittags, Freitag, der 6. August, der heißeste Tag bis zum morgigen Schabbat, und Jecheskel ist dortgeblieben, um dem zu entkommen, worunter ich mein Leben lang gelitten habe: Er ist dort geblieben, ohne Schuldgefühle, ohne Kritik oder Reue. Er lebt immer noch in dem Beinah, wartet auf die tödliche Kugel. Jecheskel sagte, er habe einen Verwundeten geschleppt. Sein Vorgesetzter hatte von ihm verlangt, den Verwundeten zu schultern. Er wollte nicht, aber der Vorgesetzte verlangte es, und so trug er den Verwundeten. Er weiß nicht mehr, wer auf ihn geschossen hat, getroffen wurde der Verwundete, der Verwundete starb, und er, Jecheskel, war gerettet.
    So ist das.

Anhang



Yoram Kaniuk – Porträt
    Seit über einem halben Jahrhundert schreibt Yoram Kaniuk Bücher. Siebzehn Romane hat er bisher veröffentlicht, dazu etliche Kurzgeschichten und mehrere Kinderbücher. Doch es sollte über sechzig Jahre dauern, bis er sich ans Werk machte, seine persönlichen – sehr persönlichen – Erlebnisse als siebzehnjähriger Palmachnik aufzuschreiben. Ganz stimmt das allerdings nicht: Kurz nach Ende des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948
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