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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman
Autoren: Aufbau
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die nur hielt, bis sie zu brechen anfing. Jecheskel ist der Bruch. Er ist die Vergangenheit ohne Zukunft. Er kann das berühren, was uns unerreichbar bleibt, den eigentlichen Augenblick des Grauens, den Augenblick des Massensterbens dort, den Augenblick des Beinah. Es ist ein heißer Sommertag, immer noch in Erez Israel, einen Moment vor dem Ausbruch, eine Hundertstelsekunde vor der Lust oder dem Schmerz, so ist Jecheskel. Das Beinah ist die Schönheit des Lebens und vielleicht auch der Augenblick des Endes, der Augenblick, in dem du stirbst, ohne dass du dich daran erinnern könntest. Jecheskel sieht aus wie ein Alter und wie ein Kind. Er wird morgen geboren werden und gestern sterben. Er besitzt etwas, was keiner von uns hat – die furchtbare Unschuld der Ewigkeit und deren unerforschliche Tiefe.
    Ich saß im Schatten des ausladenden Baumes, es wehte ein heißer Wind, nicht schlimm, der Hund bellte einen verspäteten Besucher an, und ich dachte an Goyas Gemälde »Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid«. Man sieht darauf einen sonnengebräunten Mann die Arme ausbreiten, neben ihm Leichen und im Hintergrund zerstörte Häuser, alles grau, und Soldaten stehen, die Gewehre im Anschlag und geradewegs auf das Herz des Mannes gerichtet, die abgefeuerten Kugeln sind kurz vor seiner Brust. Er ist noch nicht erschossen. Er steht in der Salve, in dem Beinah des Schusses. DieKugeln haben die Gewehrläufe verlassen, sind dem Mann sehr nahe, man sieht ihn etwas schreien oder rufen, die Atmosphäre ist geladen, die Beinah-Salve, die ihn den Bruchteil einer Sekunde später töten wird, befindet sich zwischen dem Mann und den Kugeln. Und das Gemälde bleibt. Die Menschen leben längst nicht mehr. Goya ist tot. Der Mann ist tot. Die Schusssalve bleibt. So wie Jecheskel als Einziger in Kastel verblieben ist, denn Kastel gibt es längst nicht mehr. Kastel war der entscheidende Moment im Unabhängigkeitskrieg. Es war das erste Mal, dass wir ein erobertes Dorf hielten, das erste Mal, dass wir oberhalb der Straße blieben. Die Straße nach Jerusalem war jetzt freier. Motza, das in so vielen Gefechten gelitten hatte, war gerettet.
    Nach Kastel wurden Tiberias und Safed erobert, und auf Kastel folgte auch Dir Jassin. Die Araber hätten Kastel zurückerobern können. Wir hatten den Rückzug angetreten. Sie wollten ihren Anführer bestatten und verpassten deshalb den Sieg, der ihnen den Weg zu unserer Niederlage in diesem verfluchten Krieg hätte ebnen können. Ich hatte Abdel-Kader al-Husseini mit eigenen Augen gesehen, er schrie » hello boys «, ich schoss daneben, ein anderer tötete ihn. Jecheskel erobert noch immer die Anhöhe von Kastel.
    Kein Toter ist beinah tot. Er wird in einer Sekunde geboren werden, wird im Bruchteil einer Sekunde sterben. Die Bäume kennen kein Beinah. Ein Baum braucht Jahre, um ein Stückchen zu wachsen. Der Baum ist ewig. Ein Haus kann ewig sein. Kein Mensch kann die Dauer der Ewigkeit ermessen, aber in der kleinen Ewigkeit jedes Seins ist die absolute Größe enthalten, und Jecheskel besitzt sie. Das Beinah hat nichts Absolutes. Die Ewigkeit des Beinah ist die Geburt der Art und der Ewigkeit, vonLeben und Tod. Aber das Beinah hat nur Bestand, solange es beinah ist.
    Wir unterhielten uns dort. Lachten. Rührten ein wenig an die Gegenwart, aber sie entglitt uns, war unwirklich. Wir konnten nicht von Bibi oder von Barak reden, rührten nicht ans Leben, nur an die Vergangenheit, die gestorben ist.
    Danny Rubinstein, der große Nahostexperte, der Arabisch spricht und viel über die besetzten Gebiete geschrieben hat – einmal bin ich mit ihm durch Hebron gegangen, wo alle ihn freundlich begrüßten und wir die schreckliche Lage sahen –, Danny erzählte, wie Jecheskels Kastel sich in den Augen arabischer Historiker ausnimmt. Sie können diese Geschichte nicht akzeptieren, weil sie schmerzt und ihnen auf der Haut brennt, und das zu Recht. Im Psalter ist vom »Leviatan, den du geformt hast, um mit ihm zu spielen«, die Rede. Kastel ist ein dumpfer Leviatan in der palästinensischen Geschichtsforschung. Sie tun sich schwer damit, sie hätten uns vernichtend schlagen können. Danny wendet den Blick nicht von Jecheskel, denn was von Kastel bleibt, sind nicht meine Geschichten oder die der Historiker aller Seiten, die rückwärts prophezeien. Anders als ich kennen sie nur diejenige Wahrheit, die sie, jeder auf seine Art, abwägen oder erfinden, und erst ganz zum Schluss wissen sie, was wir,
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