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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern
Autoren: Stephanie Seidel
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nicht überlebt. Auch sein Bruder, der blinde Schamane, befand sich nicht unter den Gefangenen. Er war im Wellowin geblieben – zerfetzt und zertrampelt von einer wütenden Bestie.
    Ihretwegen kehrten die Anangu erst jetzt zurück.
    Mehr als eine Woche hatte das Owomba-Weibchen um den toten Gefährten getrauert, an Ort und Stelle, weshalb die Mandori nicht fliehen konnten. Ihre Angreifer wurden von der Bestie überrascht, schafften aber noch den Rückzug auf ein Gebiet jenseits der Schirmakazie. Dort harrten sie aus mit ihren schuppigen Reittieren, die neben dem Owomba fast zierlich wirkten. Ein kompletter Abbruch der Mission wäre für die Anangu nicht in Frage gekommen, denn ER hatte einen Befehl erteilt, und SEIN Wort war Gesetz. Nun brachten sie IHM die vermuteten Urheber jenes Signals, das der Finder aus dem Wellowin empfangen hatte.
    Doch ihr Kampf gegen die Mandori war nicht so einfach gewesen wie erwartet! In der letzten Nacht der Belagerung, als die Bestie endlich abzog und sie das unterirdisch lebende Mischvolk angreifen konnten, ereignete sich ein Zwischenfall.
    Rund um die Schildkrötentore brannten schon Kriegsfeuer, und die Anangu wollten gerade damit beginnen, das weit verzweigte Höhlensystem der Mandori auszuräuchern. Da tauchte unerwartet einer der Hellhäutigen aus der Dunkelheit auf, ein alter Mann, der aus den Tiefen des Tals einen Sack heranschleppte. Er stieß ihn in den Feuerkreis, und binnen weniger Sekunden hatte sich die Luft mit zornig summenden Wolken gefüllt.
    Millionen schwarzer Barnanyin schwärmten aus. Sie griffen alles an, was sich bewegte, versenkten ihren Giftstachel wieder und wieder in menschlicher Haut. Hätten die Anangu nicht ihre Warane mitgebracht, wäre vielleicht keiner von ihnen lebend heimgekehrt. Die Riesenechsen reagierten auf das aggressive Bienenvolk mit Dampfschnaufen. Es hüllte den Platz um die Schildkrötentore in einen Nebel, der die Barnanyin durchnässte. Als er sich lichtete, krabbelten sie flugunfähig am Boden herum.
    Dann erst – im wieder aufflammenden Feuer – bemerkten die Anangu, dass Daagson verschwunden war.
    Die Wächter des Uluru glaubten anfangs, er läge verletzt in der Nähe, und sie suchten nach ihm. Doch Daagson blieb verschwunden. Er tauchte auch am nächsten Morgen nicht mehr auf, und so verließen sie schließlich das Wellowin ohne ihn.
    ***
    Gestern Nachmittag, im Wellowin
    »Und?«, fragte Daa’tan kurz angebunden. Er bewachte schon seit Stunden einen Gefangenen und verlor allmählich die Geduld.
    Grao’sil’aana durchquerte die verwaiste Versammlungshöhle der Mandori, griff nach der Strickleiter am Tor und sah hinauf ins Freie.
    »Der Himmel färbt sich rot«, meldete er. »Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis Thgáan kommt.«
    »Wird auch Zeit!« Daa’tan schlenderte an dem Gefangenen vorbei zu einem erhöhten Sitzplatz. Felle waren dort ausgebreitet, und als Rückenlehne diente eine Owomba-Kralle.
    Hier flegelte er sich hin.
    Es war so schwül in der Höhle! Daa’tan zog sich das Hemd über den Kopf. Schweiß glänzte auf seinem muskulösen Oberkörper, die Hose klebte an ihm wie eine zweite Haut. Der junge Mann versuchte möglichst flach zu atmen, denn es stank penetrant nach Verbranntem und Kohl. Selbst Grao’sil’aana war auffallend schweigsam. Nur dem Gefangenen machte das alles nichts aus. Daa’tan warf ihm einen missmutigen Blick zu.
    Daagson hieß der tätowierte Anangu mit den blauen Augen.
    Er war ein ausgesprochen fähiger Telepath, und es hatte aufwändiger Planung bedurft, um ihn dorthin zu verfrachten, wo er jetzt war. Irgendwo im Nirwana nämlich. An einem Ort, wo es keine messbare Hirntätigkeit gab und alle lebenserhaltenden Systeme auf Minimalleistung liefen.
    Als Daagson zum Wellowin aufbrach, waren Daa’tan und Grao’sil’aana ihm gefolgt; unbemerkt, im Schutz ihrer zweiten Aura. Der Daa’mure kannte die Verhältnisse im Tal. Deshalb betrat er es gar nicht erst, sondern bezog mit Daa’tan Stellung auf der nahen Felsformation. Von dort aus beobachteten die beiden den Einmarsch der Anangu ins Wellowin und ihren überstürzten Teilrückzug beim Anblick des Owomba-Weibchens.
    Thgáan war in den Folgetagen nur hoch unter den Sternen auf Patrouillenflug. Grao’sil’aana wollte den Anangu keine Kenntnisse liefern, die sie nicht haben durften. Die Telepathen standen unter einem fremden Einfluss, das bewiesen ihre Gedanken. Da war auch ein leises, kaum merkliches Ziehen an der Peripherie der zweiten
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