Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern
Autoren: Stephanie Seidel
Vom Netzwerk:
nachgehen.
    Das tat er auch. Gestern Nacht hatte er sich gleich nach Thgáans Verschwinden auf den Weg zum Uluru gemacht. Er vertraute dem Schutz seiner zweiten Aura, und tatsächlich wurde er von niemandem behelligt, als er sich im Morgengrauen durch die Ebene anschlich. Da war viel Gesträuch und hohes Gras; man konnte sich problemlos verstecken, wenn jemand auftauchte, was selten genug geschah. Außer ein paar Wächtern am Zaun, die den Mandori-Clan im Auge behielten, waren die Anangu wie vom Erdboden verschluckt. Daa’tan vermutete, dass sie wie das Mischvolk in unterirdischen Höhlen schliefen.
    Bei Sonnenaufgang war noch immer alles still. Der große, rätselhafte Felsen begann allmählich zu flammen. Unten, am noch schattigen Grund, wiegten sich die Mammutwarane um ihre Ketten. Manchmal gaben sie Laut, schnauften eine Dampfwolke aus. Vielleicht nahte die Fütterungszeit.
    Daa’tan hatte lange überlegt, welches selbst gesteckte Ziel er als erstes in Angriff nehmen wollte. Es gab deren drei: Aruula befreien, Mefju’drex töten und dieses außerordentlich faszinierende fliegende Schiff erforschen, das neben dem Uluru vor Anker lag. Daa’tan hatte so etwas noch nie gesehen. Ein paar Meter über dem Boden schwebte eine riesige, blau und rot gehaltene Blase. Unter ihr, an Tauen befestigt, hing eine Kabine. Man konnte hinein sehen, und der Mann, der sich im Inneren zu schaffen machte, war bestimmt ein Pirat! Er hatte rosafarbene falsche Haare auf dem Kopf, seine Haut war schwarz, und er trug gelbe Hosen unter der merkwürdigen Jacke.
    Daa’tan musste näher heran, auch wenn das bedeutete, zwischen dem Mandorizaun und den Riesenechsen her zu laufen. Doch was sollte schon passieren? Die Warane waren angekettet, die Gefangenen würden keinen Alarm schlagen, und die paar Wächter konnten ihm nicht gefährlich werden.
    Daa’tan konzentrierte sich auf sie, drang in ihr Bewusstsein vor und befahl ihnen, müde zu sein. Richtig müde. Prompt begannen die Anangu zu gähnen, suchten nach einem bequemen Plätzchen und legten sich hin. Gleich darauf hörte man sie schnarchen.
    Es war alles so einfach. Daa’tan hatte das Gefühl, ihm gehörte die Welt, und mit dieser angenehmen Vorstellung rannte er los.
    Als unvermittelt die Falle zuschnappte…
    ***
    Victorius zuckte zusammen, als rings um seine Roziere der Boden explodierte. Der afrikanische Prinz hatte sich zwar darüber gewundert, dass die Anangu während der Nacht überall Löcher aushoben, sich samt ihren Waffen hineinlegten und mit Erde bedecken ließen. Aber es interessierte ihn nicht wirklich. Der Finder hatte ihm einen Auftrag erteilt, und nur SEIN Wort war wichtig.
    Dennoch unterbrach Victorius nun das Aufheizen des Ballons, ließ die Dampfmaschine alleine weiter schnaufen und trat ins Freie. Was ging da draußen vor?
    »Par bleu!«, entfuhr es ihm, als er den jungen Mann entdeckte. Neunzehn, zwanzig Jahre alt, schätzte Victorius. Er war in die Falle der Anangu getappt und von Dutzenden staubiger Krieger umringt, die versuchten, an ihn heran zu kommen, ihn niederzuwerfen. Er leistete erbitterten Widerstand.
    Victorius war kein Freund von Gewalt. Aber dieser junge Mann, der auf so restlos verlorenem Posten stand und trotzdem nicht aufgab, beeindruckte ihn. Seine einzige Waffe war ein Schwert. Es sah ungewöhnlich aus, und es sang, wenn die scharfe Klinge herunter fuhr. Das tat sie ohne Unterlass – und wann immer sie traf, floss Blut.
    Ein ultrahelles Zirpen erklang, und eine winzige Fledermaus flatterte an Victorius vorbei. Der Prinz fing sie aus der Luft und warnte: »Bleib lieber hier, Titana! Die Wilden da draußen nehmen keine Rücksicht, das weißt du… oh! Quel malheur!«, rief er laut, als ein abgeschlagener Anangu-Kopf heran rollte.
    Victorius zog sich eilig in die Gondel zurück und trug Titana zu ihrem mit Stroh und Federn gefüllten Nest, das über dem einzigen Tisch hing.
    Der ungleiche Kampf draußen näherte sich dem Luftschiff.
    Die Hülle aus Stoff war empfindlich gegen Schwerthiebe und Lanzenstöße; Victorius beschloss, die Taue zu kappen und die Roziere aus der Gefahrenzone zu bringen. Der Ofen war befeuert, die Propeller drehten sich, und das bisschen Heißluft, das noch fehlte, konnte man beim Aufsteigen zugeben.
    Vorsichtig lugte der Prinz noch einmal ins Freie, eine Axt in der Hand.
    Die Anangu hatten offenbar keine Lust mehr, sich erschlagen zu lassen. Sie gingen auf Abstand, hoben ihre Speere. Victorius sah, dass der junge Mann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher